Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Expertenrat kritisiert Corona-Politik
Während Bund und Länder um neue Corona-Maßnahmen ringen, hebt NRW in Höxter, Minden-Lübbeke, Recklinghausen und im Oberbergischen Kreis die 15-Kilometer-Regel auf.
Kurz vor der Videokonferenz der Ministerpräsidenten mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sorgt ein Gutachten aus NRW für Aufsehen. Verfasst hat es der von Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) initiierte Expertenrat, dem unter anderen der Bonner Virologe Hendrik Streeck, der frühere Chef der Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, sowie die Präsidentin des Europäischen Ethikrats, Christiane Woopen, angehören.
„Die bisherigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie haben nicht den von der Politik erwünschten Erfolg gebracht“, schreiben die Autoren. „Die Sterblichkeit infolge des Virus im höheren Alter ist weiterhin hoch, mitunter gestiegen. Zugleich stehen viele wirtschaftliche Existenzen in den geschlossenen Branchen vor der Aussichtslosigkeit.“Es sei erstaunlich und nicht hinnehmbar, dass über die Ansteckungsorte seit dem Lockdown im Frühjahr 2020 immer noch zu wenig bekannt sei, kritisierten die Experten. Sie fordern, dass endlich eine Tracing-App kommt, das Monitoring verbessert wird, die Infektionsketten wieder nachverfolgt werden, die wirtschaftliche Hilfe schneller fließt und generell nur Maßnahmen ergriffen werden, für deren Wirksamkeit es Belege gibt.
NRW nimmt derweil Maßnahmen zurück. Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) erklärte, mit Ausnahme von Bielefeld gebe es keinen Kreis oder kreisfreie Stadt über einer Inzidenz von 200. In Bielefeld hänge dies vor allem mit dem Meldewesen zusammen. In den früheren Hotspots Recklinghausen, Minden-Lübbecke, Höxter und Oberbergischer Kreis werden die Bewegungseinschränkungen auf einen 15-Kilometer-Radius an diesem Dienstag zurückgenommen.
Zu der Vertretbarkeit von Schulöffnungen wollte Laumann sich nicht äußern. Der schulpolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, Jochen Ott, forderte ab Februar ein Wechselmodell für alle Jahrgangsstufen. „Je jünger die Kinder sind, desto häufiger sollten sie die Schule besuchen dürfen. Sonst drohen ernsthafte mentale und psychische Probleme“, warnte er. Wünschenswert sei ein tageweiser Wechsel zwischen Distanz- und Präsenzunterricht. „Außerdem muss es für bedürftige Kinder in den Schulen Study Halls geben, damit sie dem Unterricht folgen können“, so Ott.
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, forderte einen „an Infektionszahlen gebundenen Hygienestufenplan für den Schulbetrieb“. Dieser müsse regeln, ab welchem Infektionsgeschehen für welche Altersgruppe welche Unterrichtsform möglich sei, sagte der Lehrervertreter. Meidinger nannte Präsenzunterricht, Wechselbetrieb oder Distanzunterricht als Möglichkeiten. „Bei der Rückkehr an die Schulen sollten die Abschlussklassen und die Primarstufe bevorzugt berücksichtigt werden“, so Meidinger. Zudem forderte er, dass Lehrkräfte frühzeitig geimpft werden müssten.
Die Kommunen forderten schärfere Maßnahmen. Städtetagspräsident Burkhard Jung sagte: „Was wir alle bisher tun, ist wichtig, aber es reicht in der Summe nicht. Der Lockdown wirkt nicht so stark wie erhofft.“Es sei richtig, auch neu über Ausgangssperren nachzudenken. „Auch wenn solche Schritte schwerfallen, müssen sie besprochen werden. Denn es muss darum gehen, die Kontakte, wo immer möglich, noch weiter zu reduzieren“, sagte Jung.