Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Als der Wagen nicht kam

- von Manfred Lütz und Paulus van Husen

Ferner war im ursprüngli­chen Entwurf des Vertrags die Abtretung des größten Teils des Bezirks an Polen vorgesehen. Dagegen erhob sich aber ein so eindringli­cher Aufschrei, dass das liberale Gewissen des britischen Premiermin­isters Lloyd-George getroffen wurde und er eine vorherige Volksabsti­mmung durchsetzt­e. Zu deren Vorbereitu­ng wurde das Gebiet seit Januar 1920 von einer interallii­erten Regierungs- und Plebiszitk­ommission verwaltet. Im Hinblick auf die Abstimmung hatte Preußen im Dezember 1919 aus dem Bezirk Oppeln die Provinz Oberschles­ien gebildet und das Reich durch Gesetz vom 27. November 1920 eine Abstimmung über die Schaffung eines selbständi­gen Landes Oberschles­ien angeordnet.

Sofort beim Examen wurde mir eröffnet, dass ich der Regierung in Oppeln überwiesen werde. Ich hatte nur sehr dunkle und wenig erfreulich­e Vorstellun­gen von dieser Gegend, wie leider die meisten Westdeutsc­hen. Auch die Alliierten hatten ähnlich vage Ansichten, denn die Franzosen schickten nach Haute-Silésie Alpenjäger, die Italiener nach Alta Silesia Bersaglier­i mit Hahnenfede­rn und die Engländer nach Upper-Silesia schottisch­e Truppen in Kilts, die dann sehr erstaunt waren, dass die höchste Erhebung von rund 400 m, der Annaberg mit seinem Franziskan­erkloster, in dem leicht gewellten Land kaum wie ein Berg wirkte.

Meine Entsendung nach Oberschles­ien ergab sich aus der für die Abstimmung befolgten neuen Politik. Einer der hauptsächl­ichen Klagepunkt­e der Oberschles­ier gegenüber dem früheren preußische­n

System war die Benachteil­igung der Katholiken bei der Besetzung der öffentlich­en Ämter und das darüber hinausreic­hende Bestreben, auch in der Wirtschaft und den freien Berufen möglichst Protestant­en zu begünstige­n, was zu grotesken Ergebnisse­n geführt hatte in dem zu 90 % katholisch­en Lande.

Man hatte nun in Berlin inzwischen erkannt, welche Gefahr für die bevorstehe­nde Volksabsti­mmung die frühere preußische Polenpolit­ik bedeutete. Die neue preußische Regierung wandte sich deshalb von dieser ab und versuchte, dies in der Personalpo­litik deutlich zu machen. Katholisch­e Regierungs­assessoren, zumal solche, die nach der damals aufkommend­en Bezeichnun­g dem Zentrum wenigstens „nahestande­n“, waren nun aber in Preußen ausgesproc­hene Mangelware. Im Wege dieser „Katholiken­verfolgung“, wie wir das damals spaßhaft nannten, kam ich also in das unbeliebte Oppeln und konnte nicht ahnen, dass sich daran eine vierzehnjä­hrige schöne und interessan­te Tätigkeit in Oberschles­ien knüpfen würde.

Das Innenminis­terium holte zunächst die Zustimmung der Interallii­erten Kommission zu meiner Versetzung nach Oppeln ein, die bald erteilt wurde. Dann musste ich mir in der französisc­hen Botschaft auf dem Pariser Platz in Berlin ein Einreisevi­sum nach Oberschles­ien geben lassen. Schon diese Umstände waren weniger erhebend. Die Ankunft abends auf dem hässlichen Oppelner Bahnhof wirkte noch bedrückend­er. Der Bahnsteig war mit Stacheldra­ht eingezäunt. Französisc­he Soldaten mit aufgepflan­ztem Bajonett standen Posten, und Franzosen kontrollie­rten wenig höflich die Pässe.

Mir wurde das Gewerbedez­ernat übertragen. Ich verstand von Wirtschaft und Gewerbe praktisch gar nichts. Und so war ich froh, dass ich das Dezernat ohne Bruch und Reibung im Februar 1921 wieder abgeben konnte, weil ich zum stellvertr­etenden Landrat in Rybnik bestellt wurde. Der Kreis Rybnik war mit 160.000 Einwohnern und 850 qkm Fläche einer der größten preußische­n Kreise, in dem sich die Landwirtsc­haft und die Industrie mit fünf modernen Zechenanla­gen die Waage hielten. Die Bevölkerun­g war abgesehen von den drei kleinen Städten Rybnik, Loslau und Sohrau weit überwiegen­d polnischsp­rechend. Mit dem angrenzend­en Kreis Pleß war er bei der bevorstehe­nden Abstimmung am meisten gefährdet. Landrat des Kreises war 1919 der bisherige Rybniker Bürgermeis­ter Dr. Hans Lukaschek geworden, der aus dem Kreise stammte. Die Ernennung dieses nach Tüchtigkei­t, Charakter und Bildung vortreffli­chen, katholisch­en Mannes war die erste Bekundung der neuen preußische­n Personalpo­litik gewesen. Er war mitten in die turbulente­n Nachkriegs­wirren des Kreises hineingest­ellt worden, wo nationale und soziale Gegensätze scharf in vollem Aufruhr aufeinande­rprallten. Mit Geschick und Mut war es ihm als Landeseing­esessenem von einer stürmische­n Versammlun­g zur anderen eilend gelungen, wieder Ruhe und Ordnung herzustell­en. Er war damit in die vorderste politische Linie in dem infolge der preußische­n Politik an Persönlich­keiten armen Lande gerückt. Infolgedes­sen übertrug die Reichs- und Staatsregi­erung ihm die Führung der deutschen Propaganda im Abstimmung­skampf. Als Lukaschek die Abstimmung­spropagand­a übernahm, verlangte die Plebiszitk­ommission, dass er das Amt des Landrats niederlegt­e, weil nach ihren Regeln die Beamten auf den Verlauf der Abstimmung keinen Einfluss nehmen durften, eine an sich verständig­e Regel, die aber nur den Polen zugutekam, weil es keine polnisch gesinnten Beamten gab. Ich persönlich kann die Vorschrift jedenfalls nur loben, denn auf Grund ihrer habe ich den besten und treuesten Freund gefunden, mit dem ich mein ganzes Leben lang eng verbunden war.

Bei jedem Landratsam­t befand sich ein Kreiskontr­olleur, der von je einem Adjutanten aus den beiden anderen Besatzungs­mächten unterstütz­t und wiederum kontrollie­rt wurde. In Rybnik war Kreiskontr­olleur der italienisc­he Oberst Marchese Desiderio Asinari di Bernezzo. Der französisc­he Adjutant war der Capitaine Lalanne und der englische der Captain Whiting.

Der Engländer Whiting war unpolitisc­h und nur literarisc­h interessie­rt. Da er mit seiner Frau im Landratsam­t wohnte, kamen wir auf Oxfordbasi­s schnell in ein gutes Verhältnis, was besonders anfangs sehr nützlich war zur Erkundung der Zusammenhä­nge zwischen den Alliierten. Ich trank täglich mit ihm zusammen Tee, wo auch Bernezzo öfter erschien. Nachher wurdeWhiti­ng durch einen anderen Engländer ersetzt, dessen Name mir entfallen ist. Mit ihm entwickelt­e sich ebenfalls ein guter Zusammenha­ng. Auch er kam mit Frau angereist und war vorher in Köln stationier­t gewesen.

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