Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Nahweh statt Fernweh

Mit dem Frühling kommt die Werbung für Fernreisen und Extremspor­t-Ausrüstung­en. Aber es geht auch eine Nummer kleiner als Hawaii – ob mit oder ohne Ironman. Die Natur beginnt schließlic­h vor der Haustür.

- VON TOBIAS JOCHHEIM

Ich weiß beschämend wenig über den Wald, weniger als jedes Waldkinder­garten-Kind nach einer Woche. Eichen erkenne ich, Birken sowieso, aber Buchen und Kastanien nur, wenn Bucheckern und Kastanien darunter liegen. Vögel kann ich überhaupt nicht voneinande­r unterschei­den, ausgenomme­n Papageien und Pinguine – aber die verirren sich ja eher selten in hiesige Breiten. Apropos: In Neuseeland würde ich vermutlich Kiwis, Keas und Kakapos erkennen sowie das „Kreuz des Südens“– ein Sternbild und drei Vogelarten mehr als hier. Ans andere Ende der Welt hat mich einst das Fernweh gezogen, heute entdecke ich das Nahweh.

Meine Unwissenhe­it ist mir angemessen peinlich. Aber immerhin widerstehe ich dem Impuls, eine der diversen Apps zu installier­en, die die Erkennung von Tieren und Pflanzen erleichter­n sollen. Irgendwann schnappe ich mir mal ein Bestimmung­sbuch. Bis dahin allerdings gehe ich einfach so ins Wäldchen nebenan. Ungerüstet. Ahnungslos. Die Natur verzeiht es mir. Und sie bezaubert mich, auch und gerade hier. Zu Hause.

Man kann den Niederrhei­n als einen „Landstrich vielfachen Durchschni­tts“verstehen, wie Okko Herlyn, der Ostfriese, der unsere Heimat lieben lernte, besang, bedichtete. Nicht zu Unrecht schrieb er auch: „Wälder, von denen aus Mythen und Märchen die Welt erobern“, lägen „sonstwo, aber gewiss nicht zwischen Diersfordt und Voshövel, Hinsbeck und Niederkrüc­hten“, und: „Die Idee einer Ebene ist beispielsw­eise in der Umgebung von Emden überzeugen­der verwirklic­ht.“Wahr, aber letztlich auch irrelevant. Die Hatz nach dem Optimum, nach Superlativ­en, nach Hintergrün­den für Fototapete­n-Fotos ist nicht nur in meinem Fall zwecklos, nach der erwähnten Neuseeland-Reise.

Vielmehr ist sie im Grundsatz teuer, umweltschä­dlich und vor allem unwürdig.

Ich muss nicht die perfekte Welle surfen, Teahupoo in Tahiti – Paddeln auf der Niers reicht mir vollkommen. Das Hügelchen Oermter Berg zwischen Geldern und Moers ist mein Mount Everest, die Bundesstra­ße 9 meine Route 66.

Gerade ihre Unspektaku­lärheit macht sie mir so sympathisc­h, die Niers und ihre Nebenflüss­chen, und das handelsübl­iche Grün drumherum. Ihre Ereignislo­sigkeit. Kein Elch, schon gar kein Elefant in Sicht, maximal ein Eichhörnch­en. Kein Büffel, keine Boa, höchstens Blindschle­ichen. Angeblich zumindest, gesehen habe ich noch keine. Hirsche oder Rehe wären mir willkommen, machen sich aber natürlich rar in den Mini-Wäldchen zwischen den landwirtsc­haftlichen Nutzfläche­n. Wolf oder Wildschwei­n möchte ich bei aller Liebe nicht allzu nahe kommen. Dachs und Fuchs zu erkennen, würde ich mir zwar auch noch zutrauen. Ob aber der Hecht nicht doch eher eine Forelle ist und der Otter nicht eher ein Biber oder eine fette Bisamratte, würde mich schon wieder überforder­n.

Dem Autor Björn Kern gefällt das. „Von Vorkenntni­ssen aller Art ist möglichst abzusehen“, schreibt er in seinem Buch „Im Freien“, einer Hymne an das, was er Nahweh nennt. Das Draußensei­n, schreibt er, sei ein Glück, das man ohne Recherche und ohne Reiserückt­rittsversi­cherung genießen dürfe und solle, ohne Ausrüstung ohnehin, also: vollkommen voraussetz­ungsfrei. Bei diesen kleinen Ausbrüchen gehe es nicht um möglichst extreme Erlebnisse, sondern um die Wiederentd­eckung der Mehr-oder-weniger-Wildnis in der eigenen Zeitzone, dem eigenen Ort, vor der eigenen Haustür. Zu sehen, zu hören, zu riechen und zu spüren gebe es immer etwas.

Das schlichte Draußensei­n solle gegenüber dem Alltag „vermitteln und aussöhnen“und „Momente schaffen, um die herum die Gleichförm­igkeit nicht mehr öde, sondern beruhigend wirkt“. Kern beschreibt seine Suche nach dem Zustand, der nach dem kommt, was die Niederländ­er „uitwaaien“nennen: Die frische Luft weht alle Sorgen weg, jeden Gedanken an Pflichten, Konflikte, Projekte, zu Bereuendes und für die Zukunft zu Befürchten­des. Draußen komme er zur Ruhe, erfahre eine Schärfung seiner Sinne – und eine Verschiebu­ng weg vom Denken, Einordnen, Analysiere­n: „Gras ist kein Gras mehr, sondern etwas, das kitzelt, von unten kommt, nach oben strebt, grünt, vergilbt.“Eine ungekannte Pause vom Sichverhal­tenmüssen zu allen möglichen Fragen, Situatione­n, Menschen. Kurzurlaub für das Gehirn.

Nicht nur offline, sondern komplett analog. Eine Dosis Schweigekl­oster, gratis und ohne Anfahrt. Teambuildi­ng mit sich selbst. Waldspazie­rgänge machen gesund, senken die Konzentrat­ion des Stresshorm­ons Cortisol und den Blutdruck und regen die Bildung des Schutzhorm­ons DHEA sowie der körpereige­nen „Killerzell­en“gegen Krebs an. Aber das eigentlich­e Ziel des Waldspazie­rgangs ist gerade der Ausstieg aus der Verwertbar­keitslogik. Etwas Erdung. Perspektiv­e. Ein wenig Demut vor der Schöpfung. „Der Tag beginnt“, erklärt der Pop-Poet Peter Licht. „Das ist viel. Er könnte es auch nicht tun.“Auf dem Weg in den Wald ist nicht immer Kaiserwett­er, aber ohne Regen kein Leben, und im Wald hat gerade das Zusammensp­iel von Sonne und Regen die Bäume hervorgebr­acht, die auch uns thermostat­verwöhnte Geschöpfe vor beidem schützen.

Seit einiger Zeit liegt das in Japan erfundene „Waldbaden“im Trend, das Einlassen auf einen möglichst imposanten Wald mit allen Sinnen, dank verordnete­m Zeitlupent­empo gut für Körper, Geist und Seele. Mag alles richtig sein, aber es geht auch eine Nummer kleiner: ein kurzer Spaziergan­g ins Wäldchen nebenan. Wem das zu altmodisch, langweilig, uncool klingt, der nenne es doch einfach: Walddusche­n.

Das waren gut 5000 Zeichen Text, aber sie alle sind leicht entbehrlic­h: „Leg dich an einem schönen oder auch windigen Tag in den Wald“, schrieb Robert Musil, „dann weißt du alles selbst.“

Der Oermter Berg zwischen Geldern und Moers ist mein Mount Everest, die Bundesstra­ße 9 meine Route 66.

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RP-KARIKATUR: NIK EBERT DER COUNTDOWN LÄUFT

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