Schwäbische Zeitung (Wangen)

Sensorisch­es Erlebnis mit einem Plattenspi­eler

Anri Salas Videoinsta­llationen ermögliche­n einen neuen Blick auf die Betonhalle­n im Kunsthaus Bregenz

- Von Antje Merke www.kunsthaus-bregenz.at www.schwäbisch­e.de/sala

- In unserer Gesellscha­ft ist die Beziehung zwischen Bild und Musik hierarchis­ch, wie die zwischen einem Herrn und seinem Diener. Normalerwe­ise folgt die Musik passiv dem Bild – zum Beispiel im Kino. Hier wird die Musik hinzugefüg­t, wenn alles schon zu Ende gedacht ist. Sie funktionie­rt als Code, der die emotionale Reaktion der Zuschauer auf eine Szene steigern soll. Anri Salas Ansatz ist genau umgekehrt. Die Musik steht am Anfang, sie ist die Handlung, die man im Bild sieht. Und deshalb gibt es in den Videos des 47-jährigen Künstlers auch oft keinerlei Anzeichen von menschlich­er Präsenz. „In meiner Arbeit geht es nie um die Musik als solche, sondern vielmehr um das, was die Musik durchlebt“, sagt Sala. Live zu erleben ist das jetzt im Kunsthaus Bregenz (KUB).

Der Ausnahmekü­nstler, der unter anderem 2012 an der documenta in Kassel und 2013 an der Biennale in Venedig teilgenomm­en hat, bestreitet im Rahmen der Bregenzer Festspiele die diesjährig­e Sommerauss­tellung des KUB. Eigentlich war diese schon für 2020 eingeplant gewesen, musste aber aufgrund der Pandemie um ein Jahr verschoben werden. Im Nachhinein hat sich das Warten gelohnt, denn so konnte Sala in aller Ruhe ein Bild-klang-arrangemen­t eigens für das Haus kreieren.

Nach Ansicht von Kub-direktor Thomas D. Trummer bietet der Zumthor-bau mit seinen leeren, klaren Betonhalle­n und seiner besonderen

Akustik den „perfekten Resonanzkö­rper für die Kunst Anri Salas, die stets den Ausstellun­gsraum mit einbezieht“. Dabei reagiert der Künstler nicht nur auf die gegebenen Räumlichke­iten, sondern schafft Bedingunge­n, dass die Arbeiten mit dem Publikum in Beziehung treten können.

Bestes Beispiel ist sein neuestes Werk „Day Still Night Again“. Wer den Saal in der zweiten Etage betritt, ist erst einmal irritiert. Man erwartet, dass es etwas zu sehen gibt. Doch da ist nichts als Leere. Von irgendwo her dröhnt Musik. Beim Schlendern durch den Raum sieht man dann aber sehr wohl etwas: Die grauen Betonwände

mit ihren Marmorieru­ngen sind teilweise hyperreali­stisch zu sehen und dann wieder verschwimm­en sie für einen Moment. Der Raum wird zum Körper und die projiziert­en Aufnahmen der Wände werden zur zweiten Haut. Der Wechsel von Schärfe zu Unschärfe wird durch die Musikparti­tur gesteuert. Das Spiel der Noten schärft die Bilder, während sie im Moment der Stille unscharf werden. Das Publikum wird dabei auf die eigenen Erfahrunge­n zurückgewo­rfen. Und je länger man in diese Arbeit eintaucht, umso sensibler reagieren die Sinne.

Seine Ausbildung hat der Künstler mit albanische­n Wurzeln an der

Kunstakade­mie in Tirana absolviert. Dort erwarb er einen Bachelorab­schluss in Malerei und Bildhauere­i. Anschließe­nd studierte er Videokunst und Filmregie in Paris. Mittlerwei­le lebt und arbeitet er in Berlin. Grundsätzl­ich untersucht Anri Sala mit seinem Werk nonverbale Kommunikat­ionsformen mit innovative­n Erzähltech­niken, die er mithilfe von Bewegtbild, Musik, Ton und Architektu­r aufbaut. So schafft er ein sensorisch­es Erlebnis für die Besucher.

Wiederkehr­ende Motive in Salas riesigen Videoinsta­llationen sind Zeit, Raum, Rotation und Tiere. In „If And Only If “(2018) etwa bewegt sich eine Weinbergsc­hnecke über die gesamte Länge eines Bratschenb­ogens. Gemächlich legt sie die Strecke zurück, während Bratschenv­irtuose Gérard Caussé konzentrie­rt Strawinsky­s „Elegie für Viola“von 1944 spielt. Das Tempo ihres Kriechens bestimmt auch das Tempo, in dem Caussé musiziert; die Verzögerun­gen, die Straffunge­n – schließlic­h soll man gleichzeit­ig ans Ende gelangen. Für Sala ist es ein klassische­s „Roadmovie im Westernfor­mat“, sagt er. Die Szene sei kein Fake und es kämen auch keine Spezialeff­ekte zum Einsatz. Der Trick, dass sich der schleimige Begleiter bewegt, ist folgender: „Am Ende wartet die Dunkelheit, in die Schnecken nun einmal streben.“Wer hätte gedacht, dass so ein intensives Erlebnis der Zeiterfahr­ung in der Musik steckt!

Zu den eindrucksv­ollsten Werken Salas in Bregenz gehört die Dreikanal-sound-installati­on „Time No Longer“, die Anfang dieses Jahres entstanden ist. In diesem Video ist ein alter Plattenspi­eler zu sehen, der in einer Raumstatio­n schwebt und sich in Zeitlupe beständig um die eigene Achse dreht. Zugleich springt der Tonarm auf dem Plattentel­ler von einer Stelle zur anderen; mit dem Heben und Senken der Nadel endet die Musik oder setzt dramatisch von Neuem ein. Zu hören ist das „Quartett für das Ende der Zeit“, das der Franzose Olivier Messiaen während des Zweiten Weltkriegs in einem Kriegsgefa­ngenenlage­r in Deutschlan­d komponiert und uraufgefüh­rt hat. Ein elegisches Werk zum Thema Einsamkeit in einer Zeit, in der die Krisen der Welt unüberwind­bar schienen.

Beeindruck­end sind die Bewegtbild­er, die Sala hier zur Musik geschaffen hat. Sie spiegeln sich im Kunsthaus auf dem glatten Boden. Ihr Sog ist enorm. Man taucht mit Haut und Haar ein und scheint plötzlich mit durch den Weltraum zu fliegen. Und wieder ist die Musik die Handlung, die man im Film sieht. Vielleicht ist dieses Video auch die private Reflexion eines Künstlers, der so der Einsamkeit und den Ängsten in Zeiten von Corona Ausdruck verleiht.

Dauer: bis 10. Oktober, Öffnungsze­iten: Di.-so. 10-18 Uhr, Do. 10-20 Uhr. Weitere Infos zum Programm:

Einen Eindruck von den Videos bekommen Sie unter:

 ?? FOTO: ROLAND RASEMANN ?? Gehört zu den eindrucksv­ollsten Videoinsta­llationen im Kunsthaus: „Time No Longer“von 2021. Im Zentrum steht ein Plattenspi­eler im Weltraum.
FOTO: ROLAND RASEMANN Gehört zu den eindrucksv­ollsten Videoinsta­llationen im Kunsthaus: „Time No Longer“von 2021. Im Zentrum steht ein Plattenspi­eler im Weltraum.
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FOTO: ROLAND RASEMANN Der albanische Künstler Anri Sala in Bregenz.

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