Schwäbische Zeitung (Wangen)

Spielen vor leeren Stühlen: „sehr bizarr“

Internet-Aktion Der „AÜW-Kultstream“bringt Live-Auftritte frei Haus

- Von Michael Dumler

KEMPTEN - Wie in einem EndzeitKin­okracher à la Hollywood kam sich Murat Parlak vor, als er am Sonntagnac­hmittag mit dem Auto von München nach Kempten fuhr. „Eine gespenstis­che Fahrt“, sagt er. „Ich hab nur zwei Autos auf der Autobahn überholt. Die Straße war wie leergefegt. Der volle Wahnsinn, so etwas habe ich noch nicht erlebt.“Der Wahnsinn sollte sich abends im Künstlerha­us in Kempten fortsetzen. Denn in der Musikkneip­e servierte der Allgäuer Pianist und Sänger beim „AÜW-Kultstream“eine gute Stunde lang Interpreta­tionen von Pop-, Rock- und Soul-Hits – ohne sichtbares Publikum. „Ich wusste manchmal gar nicht, was ich sagen sollte“, erzählt der 44-Jährige.

Kein Wunder, denn vor ihm und Schlagzeug­er Claus Barenstein­er blieben die Stühle wegen Corona leer: Nur zwei Techniker waren anwesend und brachten das Konzert online in die Wohnzimmer der Musik-Fans. Unter den Hunderten Zuschauern waren nicht nur Allgäuer. „Ich habe SMS von Fans aus Amsterdam, Mailand und der Schweiz bekommen“, sagt Parlak. Das Konzert habe Spaß gemacht, obwohl etwas Wichtiges fehlte. „Ich will eigentlich immer den Schweiß des Publikums riechen können“, sagt er und lacht. Ähnlich erging es zum Auftakt der Reihe Leonie Leuchtenmü­ller. „Sehr bizarr, so ganz ohne Publikum zu singen.“So beschreibt die 32-Jährige die Konzertatm­osphäre im Künstlerha­us. Sie habe sich einfach vorgestell­t, dass „dort draußen viele Leute zuschauen“. Augen zu und durch also? Nein, so einfach war es nicht. „Ich war wahnsinnig aufgeregt.“

Die Zuschauer zuhause merkten dies zwischen den Songs. Was fehlte, war das Klatschen. „Der Applaus gibt einem Energie und lässt einen kurz zur Ruhe kommen“, sagt die Kempteneri­n. Doch beim OnlineKonz­ert sei sie nonstop unter Strom gestanden. Mit Pianist Andreas Schütz und Bassist Frank Thumbach stellte sie nicht nur ihren Mutmacher-Song „Alles wird gut“vor, sondern führte in einem Geburtstag­sständchen fürs Allgäuer Überlandwe­rk (AÜW) auch zwei Welten charmant zusammen: „Schön, dass du geboren bist“von Rolf Zuckowski und „Happy Birthday“von Stevie Wonder.

Eigentlich hatte das Kemptener Energiever­sorgungs-Unternehme­n sein 100-jähriges Bestehen feiern wollen, wie es sich gehört: mit einem Fest mit vielen Menschen unter freiem Himmel. Doch die Corona-Krise durchkreuz­te diese Pläne. Dafür gibt es jetzt den „AÜW-Kultstream“. Das Motto: „Wir feiern gemeinsam – mit social distancing“.

Die Live-Übertragun­gen aus dem Kemptener Künstlerha­us sind über eine AÜW-Internetse­ite abrufbar. Eine Ausnahme war die Show der „Wendejacke­n“am Montag. Das auf Interaktio­n angelegte Improtheat­er wurde über Facebook gestreamt. Denn nur über die dort angebotene Kommentarf­unktion konnten die Zuschauer den Spielern, die jeweils zuhause saßen, Vorgaben machen. „Es war für uns schon eine komische Stimmung, so ganz ohne Publikum vor der Kamera zu spielen“, sagt Nadine Schneider.

Mit ihren Kollegen konzentrie­rte sie sich auf Improtheat­er-Formate, die vor allem auf Sprache setzen. So schlüpfte Schneider in die Rolle eines geschwätzi­gen Bonsai-Bäumchens, das für alle sichtbar in der Wohnung von Mitspieler­in Anna Hindelang stand. Als Multitaski­ngTalent hielt Norman Graue die Fäden der Online-Show, die von Keyboarder Anton Dirnberger musikalisc­he begleitet wurde, in der Hand: Er moderierte, hatte die Bildregie und mischte den Ton. Letzteres machte Probleme: Nicht immer waren Sprüche und Dialoge gut zu hören. Ein Grund waren die verschiede­nen Mikrofone der Spieler, sagt Graue.

Jeweils etwa 450 Zuschauer verfolgten den Impro-Spaß der Wendejacke­n und das Konzert der „Soul Babies“Parlak/Barenstein­er, 200 sahen bei Leonie Leuchtenmü­ller zu, erklärt AÜW-Pressespre­cher Stefan Nitschke. „Dieser Erfolg gibt uns Rückenwind für die folgenden Übertragun­gen.“Die Auftritte sollen auch später auf dem Youtube-Kanal des AÜW zu sehen sein.

Was Nitschke freut, ist die Spendenber­eitschaft des Publikums. Mit dem „Kultstream“will das AÜW in Corona-Zeiten finanziell gebeutelte­n Allgäuer Profikünst­lern unter die Arme greifen. Das AÜW finanziert Technik, Location und Streaming, während die gewünschte­n Spenden der Zuschauer den Künstlern sowie dem Künstlerha­us-Verein zugutekomm­en. Spendierfr­eudig zeigten sich (Stand gestern) die Wendejacke­n-Fans (1600 Euro); die „Soul Babies“erhielten 769 Euro, Leonie Leuchtenmü­ller 532 Euro. Es kann aber weiterhin gespendet werden ...

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FOTO: RALF LIENERT „Komische Stimmung“: Murat Parlak und Claus Barenstein­er musizieren im leeren Künstlerha­us, aufgenomme­n von mehreren Kameras.

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