In Mam Rashan leiden vor allem Kinder unter der Quarantäne
In den nordirakischen Flüchtlingscamps herrscht eine strikte Ausgangssperre – Auch der Schulunterricht fällt aus
ULM - Ausgangssperre, geschlossene Läden, keine Aufträge für die Firmen, scharfe Kontrollen: Die Corona-Krise hat auch die autonome Region Kurdistan erreicht. Besonders hart betroffen sind von den 1,1 Millionen Flüchtlingen jene 400 000 Menschen, die in den mehr als 20 Camps ihre Wohncontainer oder Zelte nicht mehr verlassen dürfen: „Die Regierung befürchtet, dass ein Ausbruch der Pandemie in den Camps nicht mehr zu stoppen wäre“, berichtet Thomas Shairzid von der CaritasFlüchtlingshilfe Essen. Bisher sind erst 300 Corona-Fälle bekannt.
Nach einem langen und harten Winter hatten sich die Kurden auf das Neujahrsfest, Newroz, gefreut: Traditionell findet zum kurdischen Neujahrsfest am 21. März eine Massenveranstaltung in der Kurdenmetropole Erbil mit Tausenden Teilnehmern statt; in der Provinzhauptstadt Dohuk lädt Gouverneur Farhad Ameen Atruhi zu einer Feier in der Innenstadt ein. In diesem Jahr musste die Feier ausfallen: Die kurdische Regionalregierung hatte bereits Ende Februar alle Feierlichkeiten zum Newrozfest abgesagt. Auch die Gedenkveranstaltung für die Opfer des Chemiewaffenangriffs auf Helebce am 16. März 1988 durch das SaddamRegime musste abgesagt werden. Nicht nur das Coronavirus mit den Ausgangsbeschränkungen sorgte für leere Straßen, auch hatten Überschwemmungen nach tagelangen Regenfällen ganze Stadtteile unter Wasser gesetzt. Schulen, Universitäten, Theater, Museen, Verwaltungen und Sportstätten in Kurdistan sind schon seit Wochen geschlossen.
Während die Bewohner der Städte und Dörfer in ihren Wohnungen und Häusern verharren müssen, bleiben den Bewohnern der 22 Flüchtlingscamps als Lebensraum nur ihre bescheidenen Wohncontainer oder Zelte. Fünf, sechs oder sieben Personen leben auf jeweils 30 Quadratmetern. Seit zwei Wochen haben auch sie sich an eine strikte Ausgangssperre zu halten, dürfen ihre Behausungen nicht verlassen. Das gilt auch für die 12 000 Menschen, die in den Camps Mam Rashan und Sheikhan leben – die meisten von ihnen gehören der religiösen Minderheit der Jesiden an.
Aus den Mitteln der Weihnachtsaktion der „Schwäbischen Zeitung“sind dort seit 2016 viele Projekte entstanden, die die bescheidene Lebensqualität der Flüchtlinge punktuell, aber effektiv verbessern: „Wenn aber die Pandemie in den Camps, in denen die Flüchtinge dicht an dicht wohnen, ausbricht, dann wäre dies eine humanitäre Katastrophe“, sagt Thomas Shairzid von der CaritasFlüchtlingshilfe Essen, mit der die „Schwäbische Zeitung“zusammenarbeitet. Zweimal am Tag kommt ein Pick-up, der Lebensmittel bringt: „Ansonsten bleiben nur Fernsehen oder das Internet.“Die Schulen in den Camps sind geschlossen, auch sind die Fußballplätze verwaist. Auf den Wegen zwischen den Zelten und Containern, auf denen bei schönem Wetter die Kinder spielen, herrscht traurige Stille.
Besonders bitter sind Quarantäne und Ausgangssperre für ehrgeizige Schüler wie Ysra und Sadik Alaji: Im vergangenen Jahr hatten die Geschwister den Lesern der „Schwäbischen Zeitung“gedankt, weil nun Schulbusse für die Fahrt zur höheren Schule bereitstehen. Aber anders als in Deutschland gibt es keinen auf digitalen Kanälen übertragenen Schulunterricht, derzeit lernen die Schüler nichts. Aber Sadik, der in diesem Jahr sein Abitur ablegen will, wird trotz der Corona-Krise sein Jurastudium aufnehmen können: Die Prüfungen werden im Sommer nachgeholt.
Die strikten Anweisungen der Autonomiebehörde, die die kurdischen
Streitkräfte, die Peschmerga, zur Kontrolle einsetzt, zeigen offensichtlich Erfolge: In der Provinzhauptstadt Dohuk ist bisher nur ein einziger Patient erkrankt. Gleichzeitig sind die Maßnahmen auch im Mangel an Behandlungsplätzen begründet: Denn in Kurdistan stehen für die 1,5 Millionen Kurden und 1,1 Millionen Flüchtlinge nur etwa 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. Zum Vergleich: Nach Angaben des Sozialministeriums verfügt Baden-Württemberg mit elf Millionen Einwohnern über 3246 Intensivbetten, von denen bei 2208 eine Beatmungsmöglichkeit besteht. Gleichzeitig ist die Gefahr groß, dass aus dem benachbarten Iran das Virus eingeschleppt wird: Die Zahl der Corona-Toten und Infizierten im Iran stieg zuletzt erneut an. Laut Gesundheitsministerium hat sich die Zahl der Toten am Donnerstag auf 2234 erhöht, die der Infizierten auf fast 30 000.