AOK gegen Spahn-Pläne
Südwest-Chef Hermann kritisiert Gesetzesvorhaben
FRIEDRICHSHAFEN/RAVENSBURG (ank) - Die gesetzlichen Krankenkassen fürchten angesichts kostspieliger Pläne von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) deutliche Ausgabenschübe. „Da häufen sich Milliarden aufeinander“, sagte der Chef der AOK Baden-Württemberg, Christopher Hermann, im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Forderungen nach einer stärkeren Entlastung der Versicherten angesichts von Rekordüberschüssen der GKV wies Hermann zurück. „21 Milliarden Euro hören sich zunächst einmal wahnsinnig viel an – vor dem Hintergrund, dass dieser Betrag gerade einer GKV-Monatsausgabe entspricht, sind sie es nicht.“
Eine Reihe neuer Gesetzesvorhaben dürfte die Krankenkassen perspektivisch Milliarden kosten. Erst diese Woche hatte Gesundheitsminister Spahn vorgeschlagen, Fettabsaugen bei Frauen zur Kassenleistung zu machen.
FRIEDRICHSHAFEN/RAVENSBURG - Das Jahr 2019 hat für die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht nur die Rückkehr zur paritätischen Beitragszahlung, sondern im Durchschnitt auch leichte Entlastungen bei der Höhe der Zusatzbeiträge gebracht. Wie nachhaltig diese Absenkung angesichts der kostspieligen Pläne von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ist und ob für die Versicherten mehr drin gewesen wäre, erklärt der Chef der AOK Baden-Württemberg, Christopher Hermann, im Gespräch mit Andreas Knoch.
Herr Hermann, Sie haben den Beitragssatz der AOK-Mitglieder in Baden-Württemberg mit Beginn dieses Jahres um 0,1 Prozent gesenkt. Es gibt Krankenkassen, die großzügiger waren. Gab es keinen größeren Spielraum?
Wir sind mit unserer Beitragspolitik seriös unterwegs. Über drei Jahre haben wir den Beitragssatz für unsere Versicherten konstant gehalten. Jetzt haben wir um 0,1 Prozent abgesenkt. Das ist eine Entlastung der Beitragszahler von insgesamt rund 90 Millionen Euro jährlich. Wir haben uns auf diese Größenordnung verständigt, weil wir klar davon ausgehen, diesen Satz in den nächsten Jahren auch halten zu können. Wir wollen kein Beitragsjojo.
Angesichts eines Finanzpolsters von 21 Milliarden Euro in den gesetzlichen Krankenkassen gibt es etliche Stimmen, die sagen, es sei mehr drin gewesen. Was sagen Sie dazu?
Wenn Sie sich anschauen, was Gesundheitsminister Spahn mit der Vielzahl bereits verabschiedeter und noch geplanter Gesetzesvorhaben an Ausgabenschüben konstruiert, sollte man vorsichtig sein. Da häufen sich Milliarden aufeinander. Finanzreserven von 21 Milliarden Euro hören sich zunächst einmal wahnsinnig viel an – vor dem Hintergrund, dass dieser Betrag gerade einer GKV-Monatsausgabe entspricht, sind sie es nicht. Wir haben die künftigen Ausgaben in unserer Beitragspolitik antizipiert. Wenn nichts Außergewöhnliches passiert, können wir aufgrund unserer soliden Finanzplanung unseren Versicherten auch weiterhin stabile Beiträge garantieren.
Gesetzlich vorgeschrieben ist eine Finanzreserve der GKV in der Größenordnung eines Viertels einer Monatsausgabe …
Das ist der absolute Notgroschen. Mit dieser Quote kann niemand seriös wirtschaften. Um solide zu arbeiten ist eine Quote von 0,7 bis 0,8 Monatsausgaben notwendig. Außerdem verteilen sich die 21 Milliarden Euro sehr heterogen auf die verschiedenen Krankenkassen. Es gibt Krankenlide kassen, die stehen finanziell sehr gut da, und es gibt Krankenkassen, die stehen finanziell weniger gut da.
Wie steht die AOK Baden-Württemberg da?
Unsere Finanzreserve beläuft sich auf rund eine Milliarde Euro. Das ist etwas mehr als eine Monatsausgabe. Das Jahr 2018 haben wir nach vorläufigen Zahlen mit einem Überschuss von 200 Millionen Euro abgeschlossen. Das relativiert sich angesichts eines Haushalts von knapp 16 Milliarden Euro zwar. Doch nichtsdestotrotz sind wir ein kerngesundes Unternehmen mit stetig wachsenden Versichertenzahlen. Seit Dezember 2018 sind wir die größte AOK BadenWürttemberg, die es je gab.
Was heißt das in Zahlen?
Zum Jahreswechsel waren in der AOK Baden-Württemberg erstmals mehr als 4,45 Millionen Menschen versichert. Damit haben wir das Allzeithoch aus dem März 1996 erstmals überschritten. Das war das Jahr, in dem die Wahlfreiheit in der GKV eingeführt wurde, und die Versicherten ihre Krankenkasse wechseln konnten.
Es wechseln also mehr Bürger zur AOK Baden-Württemberg als von ihr weg?
Ja, und das schon seit etlichen Jahren. Allein 2018 haben wir netto 130 000 neue Versicherte gewonnen. Das ist auch ein Grund für unsere so- finanzielle Verfassung. Denn Kassenwechsler sind häufig gesund und nehmen entsprechend weniger Leistungen in Anspruch. Wer ernsthaft krank ist, wechselt seine Kasse dagegen nur selten. Darüber hinaus stehen wir für nachhaltige Verträge mit Ärzten und den anderen Vertragspartnern.
Die AOKs stehen auch deshalb so gut da, weil sie vom Risikostrukturausgleich in der GKV besonders profitieren. Ändert sich das mit der für 2019 geplanten Reform?
Davon kann keine Rede sein. Der heutige Risikostrukturausgleich ist objektiv der solideste, den es je gab. Wir machen gute Verträge und deshalb profitiert die AOK Baden-Württemberg von diesem guten Versorgungsmanagement. Denken Sie nur an unser erfolgreiches Geschäftsmodell etwa bei den Arzneimittelrabattverträgen.
Noch einmal zurück zu Gesundheitsminister Spahn. Welche seiner Gesetzesvorhaben liegen Ihnen denn besonders schwer im Magen?
Allein das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz schlägt mit jährlich rund 640 Millionen Euro GKV-weit zu Buche. Damit sollen 13 000 neue Stellen im Bereich der Altenpflege aufgebaut werden, ohne dass das Personal überhaupt da ist. Und für die Finanzierung kommen die Krankenkassen auf – das hat es so noch nie gegeben. Der Gesetzentwurf für das Terminserviceund Versorgungsgesetz, das Ärzte für den Erstkontakt mit den Patienten extra vergütet, dürfte bundesweit weitere rund 600 Millionen Euro verschlingen. Und im Heilmittelbereich plant Herr Spahn, die Versorgung zu zentralisieren. Kostenpunkt: eine Milliarde Euro.
Was macht das Vorhaben so teuer?
Künftig soll der Spitzenverband der Krankenkassen mit Leistungserbringern wie Ergotherapeuten allein auf Bundesebene verhandeln. Das hieße für alle 108 Krankenkassen einheitliche zentral vorgegebene Preise. Und wie soll man zu diesen einheitlichen Preisen kommen: Man orientiert sich am höchsten irgendwo in der Republik gezahlten und schiebt alle anderen auf dieses Niveau. So steht es im Gesetzentwurf. Wir haben auch im Heilmittelbereich immer gut verhandelt. Allein uns würde dieser Systemwechsel 30 bis 40 Millionen Euro mehr kosten – danach sollen wir mit der Versorgung nichts mehr zu tun haben. Das ist ein Unding.
Das klingt nach Aktionismus. Will sich Herr Spahn profilieren?
Danach sieht es aus. Er ist mit einer Geschwindigkeit in den verschiedensten Bereichen des Gesundheitssystems unterwegs, die keine durchdachten und nachhaltigen Lösungen hervorbringen kann. Es ist ein ganz anderer Politikstil, der viele Beteiligte vor den Kopf stößt.
Für die Versicherten sind Spahns Vorstöße für mehr Pflegepersonal oder eine schnellere Terminvergabe beim Facharzt doch gute Nachrichten. Oder etwa nicht?
Die Absicht ist gut, aber die Umsetzung lässt sehr zu wünschen übrig. Nehmen Sie die 13 000 neuen Pflegekräfte, die in der Altenpflege eingestellt werden sollen. Woher kommen die? Im Krankenhaus haben wir schon jetzt zu wenig Fachkräfte. Viele Einzelmaßnahmen ergeben kein zielführendes Ganzes.
Seit diesem Jahr teilen sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Beiträge in der GKV wieder paritätisch. Was bringt das den Versicherten außer der finanziellen Entlastung?
Mit der Rückkehr zur paritätischen Beitragszahlung, die einerseits unter Gerechtigkeitsaspekten über viele Jahrzehnte ein akzeptiertes System war, werden andererseits die Arbeitgeber mit 6,9 Milliarden belastet. Wenn Arbeitgeber deshalb noch mehr auf die Effizienz von Leistungen achten, kann das auch für die Arbeitnehmer von Vorteil sein.
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