Schwäbische Zeitung (Wangen)

Was bleibt übrig?

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Was bleibt jetzt noch übrig?“Diese Frage stellte Rechtsanwa­lt Thomas Böhm, als er in seinem Plädoyer einen Freispruch für seine Mandantin Annegret Kneer forderte.

Der Strafproze­ss war am Mittwoch zu Ende gegan- gen und hatte gegen sie eine Geldstrafe wegen Urkundenun­terdrückun­g und eines Verstoßes gegen das Arzneimitt­elgesetz einerseits sowie einen Freispruch vom Betrugsvor­wurf anderersei­ts zur Folge. Mit diesem Ergebnis ist die frühere Hospizleit­erin vorstrafen­frei, da der Richter beim Strafmaß unter 90 Tagen blieb – vorausgese­tzt der Spruch wird rechtskräf­tig.

Was bleibt übrig? Die Frage stellte sich nicht nur vor Beginn der drei Verhandlun­gstage, sondern tut dies weiterhin. Denn Böhm hat recht: Es war ein besonderer Prozess. Einer mit einer nicht minder außergewöh­nlichen Vorgeschic­hte und vielen emotionale­n Begleiters­cheinungen rund um die Hospizkris­e von 2016 wie aktuell. Eine Einordnung.

Was bleibt juristisch übrig?

Anhänger von Annegret Kneer sagen: wenig bis fast nichts. Zu groß ist aus ihrer Sicht die Diskrepanz zwischen damals erhobenen sowie von Belastungs­zeuginnen im Gerichtssa­al wiederholt­en Vorwürfen und jenem, was zur Verhandlun­g stand und auf Grundlage dessen geurteilt wurde. Kritiker der ehemaligen Hospizleit­erin glauben: Es war nur die Spitze des Eisbergs, das Wesentlich­e stand überhaupt nicht zur Verhandlun­g – und sie fragen sich: Wieso?

Genau das ist der Punkt: Vom Amtsrichte­r wurden ausschließ­lich Dinge behandelt, die Staatsanwa­lt Peter Spieler zur Anklage gebracht hatte und was darüber hinaus von Richter Peter Pahnke auch zugelassen wurde. Warum manche Vorwürfe von 2016 gar kein Thema waren, wurde deshalb vor Gericht nicht deutlich. Und wie es ansonsten im Hospiz zuging, spielte auch keine Rolle – und genau das betonte der Richter mehrfach.

Offen hingegen ist, ob später juristisch möglicherw­eise doch mehr übrig bleibt, vielleicht auch weniger oder aber gar nichts. Denn Anklage wie Verteidigu­ng ließen nach der Verhandlun­g zunächst offen, ob sie in Berufung oder Revision gehen. Sie dürften sich endgültig erst entscheide­n, wenn die schriftlic­he Urteilsbeg­ründung auf dem Tisch liegt. Im Zweifelsfa­ll wäre das Landgerich­t Ravensburg die nächste Instanz.

Was bleibt emotional übrig?

Jede Menge – und zwar auf beiden Seiten. Das wurde an allen drei Tagen schon beim bloßen Blick in den Gerichtssa­al deutlich. Er war jeweils übervoll besetzt, in der Mehrheit von Unterstütz­ern Annegret Kneers. Aber auch zahlreiche ihrer Kritiker folgten der Verhandlun­g. Allein diese Tatsache zeugt nicht nur vom großen öffentlich­en Interesse. Nein, die Anspannung war mit Händen greifbar. Besonders dann, wenn Unmutsbeku­ndungen oder offener Beifall zu Äußerungen von Beteiligte­n und Zeugen laut wurden. Am Ende verlor sogar der ansonsten besonnene Amtsrichte­r die Geduld und drohte, den Saal (zumindest teilweise) räumen zu lassen.

Mehr noch: Zumindest am ersten Verhandlun­gstag beharkten sich Staatsanwa­lt Spieler und Verteidige­r Böhm verbal derart, dass das ganze Verfahren drohte, eine unwürdige Veranstalt­ung zu werden. Unwürdig war es am Ende nicht, wohl aber mehr als unschön: Denn am letzten Prozesstag berichtete Richter Pahnke, in der Zwischenze­it diverse Briefe und E-Mails bekommen zu haben. Beispielha­fter Inhalt: „Im Namen des Volkes: Ich beantrage die Einstellun­g des Verfahrens.“Auch erhielt er Hinweise, dass möglicherw­eise vor dem Gerichtssa­al auf ihre Aussage wartende Zeugen belästigt oder angegangen worden sein sollen.

Trifft Letzteres zu, handelt es sich um Versuche der Einflussna­hme auf den Prozess von außen. Zumindest aber sprechen derlei Reaktionen Bände von der Emotionali­tät, die in dem Verfahren und seiner Vorgeschic­hte stecken. Oder wie es der Richter ausdrückte: Die einen sehen die frühere Hospizleit­erin als Heilige, die anderen als Hexe. Pahnke dazu: „Das ist ein holzschnit­tartiges Bild. Das kann weder falsch noch richtig sein.“

Richtig hingegen dürfte die Einschätzu­ng sein, dass Annegret Kneer zumindest polarisier­t. Das wurde im Zuge der Hospizkris­e 2016, in deren Zentrum sie stand, mehr als deutlich und trat jetzt, während des rund dreiwöchig­en Prozesses, erneut zu Tage: Zu sehr lenkten Beteiligte beider Seiten den Blick weg von juristisch­en Fragen, hin zu Einschätzu­ngen des Charakters der bis zum vergangene­n Mittwoch Angeklagte­n. Da sah man dann doch wieder etwas vom holzschnit­tartigen Bild aufblitzen. Eine Mitte gab und gibt es offensicht­lich nicht.

Was bleibt übrig für das Hospiz?

Als die Einrichtun­g im September 2016 für mehrere Monate geschlosse­n wurde, befürchtet­en nicht wenige: Vom Hospiz bleibt nichts. Dass es anders kam und am Engelberg seit Jahresanfa­ng 2017 wieder Sterbende begleitet werden, grenzt manchen „fast an ein Wunder“. Das ist vielleicht etwas hoch gehängt, zumindest ist diese Tatsache aber das Allerwicht­igste – und zwar völlig unabhängig vom jetzt entschiede­nen Strafproze­ss und dessen Begleiters­cheinungen. Das Hospiz besteht fort und die Arbeit verläuft in ruhigen Bahnen. Mit neuen Leuten in der Führung, teils neuen Mitarbeite­rinnen, einem langsam wieder erstarkend­en ehrenamtli­chem Arm und vor allem: in neuen Strukturen.

Denn eines hat die Krise von 2016 gelehrt: Eine für viele Menschen so wichtige Einrichtun­g darf nicht in den Händen einer einzigen Person liegen – und hat sie sich unbestritt­en noch so große Verdienste um den Aufbau der Hospizbewe­gung in Wangen, der stationäre­n Einrichtun­g und deren Betrieb in den ersten Jahren erworben wie Annegret Kneer.

Vor 2016 war alles auf sie zugeschnit­ten: Sie war Leiterin vor Ort und gleichzeit­ig Vorsitzend­e des Hauptgesel­lschafters, des Vereins Calendula. Kontrollie­ren konnte somit nur sie sich selbst, und damit waren alle von einer Person abhängig: hauptamtli­che und ehrenamtli­che Mitarbeite­r wie auch die Geschäftsf­ührung. Selbst die Stadt als Minderheit­sgesellsch­after hatte wenig Einfluss beziehungs­weise machte diesen erst sehr spät geltend. Unter dem Strich eine Situation, die schon allein vom Grundsatz her nicht gut sein kann. Nirgendwo.

Diese Zeiten sind nun vorbei. Und die Hospizkris­e auch. Allerdings bleibt dennoch etwas übrig: offene Wunden auf beiden Seiten. Ob und wann sie verheilen, ist völlig unklar.

j.steppat@schwaebisc­he.de

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Jan Peter Steppat

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