Knappe Mehrheit als Dämpfer für Angela Merkel
171 Tage nach der Wahl ist die neue Regierung im Amt – Steinmeier: Demokratie steht vor Bewährungsprobe
BERLIN - Plötzlich herrscht Stille. Nur ein, zwei Sekunden lang, aber es wirkt wie eine beklemmende Ewigkeit. Dort, wo sonst Jubel laut wird und Beifall aufbraust, Abgeordnete von ihren Sesseln aufspringen, ist es einen Moment lang ruhig, als Wolfgang Schäuble das Ergebnis bekannt gibt. 364 Stimmen für Angela Merkel, nur neun mehr als nötig, mindestens 35 Parlamentarier aus den Reihen der Großen Koalition haben der Kanzlerin ihre Stimme verweigert. Dann geht ein Raunen durch den Plenarsaal, und schließlich gibt es doch noch Applaus.
Ein kurzer Schockmoment, dann haben sich Merkel und ihre Fraktion wieder gefangen. Die Kanzlerin wirkt erleichtert, strahlt, so, als sei eine Last von ihr gefallen. Geschafft! „Ja, Herr Präsident, ich nehme die Wahl an“, antwortet sie dem Bundestagspräsidenten. Wolfgang Schäuble wünscht ihr „Gottes Segen bei der Bewältigung Ihrer großen Aufgabe“.
Merkel nickt kurz, zuckt mit den Achseln, so, als wolle sie sagen „was soll’s“. Der Dämpfer ist für sie nur ein kleiner Schönheitsfehler. Um 9.53 Uhr ist Merkel erneut zur Bundeskanzlerin gewählt. Doch ein guter Start sieht anders aus. Von Aufbruch und Dynamik, wie sie die Große Koalition verspricht, ist an diesem Mittwochmorgen unter der Reichstagskuppel nicht viel zu spüren.
Vorzeitiges Ende prophezeit
25 Minuten lang werden die Namen der Abgeordneten einzeln aufgerufen, die ihre Stimme geheim in Wahlkabinen am Rande des Plenums abgeben, von A wie Abercron bis Z wie Zimmermann. 20 Minuten lang wird ausgezählt, dann ist klar: Die alte Kanzlerin ist auch die neue.
Unionsfraktionschef Volker Kauder gratuliert zuerst. Auch der gescheiterte SPD-Chef und –Kanzlerkandidat Martin Schulz reiht sich in das Defilee der Gratulanten ein.
Die knappe Mehrheit bei der Wahl und die vielen Gegenstimmen, ein Makel gleich zu Beginn der vierten Amtszeit? Merkels Vertraute winken ab. Gegenstimmen habe es immer gegeben. Angesichts der schwierigen Regierungsbildung und der Widerstände in der SPD wäre man auch nicht überrascht gewesen, wenn es erst im zweiten Wahlgang eine Mehrheit gegeben hätte, heißt es aus dem Umfeld der Kanzlerin, versucht man, das Ergebnis schönzureden. Doch ist es alles andere als ein Traumstart. „Das war knapp und ist ein schlechtes Omen“, mäkeln Merkel-Kritiker wie der konservative CDU-Mann Alexander Mitsch und prophezeien der Großen Koalition ein vorzeitiges Ende.
Wer hat aus den eigenen schwarzroten Reihen gegen Merkel votiert? SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles gibt sich überrascht angesichts der knappen Mehrheit. „Es waren mehr Gegenstimmen, als ich erwartet hätte“, sagt sie. Doch sei die SPD „sehr geschlossen“gewesen. Sie könne sich nur wundern, vermutet Nahles auch Abweichler bei der Union. Mehrheit sei Mehrheit und entscheidend sei, dass Merkel wieder Kanzlerin sei, winkt Unionsfraktionschef Volker Kauder ab – dabei war noch am Vortag mit einer „überzeugenden Mehrheit“gerechnet worden.
Zurück vom Bundespräsidenten und ihrer offiziellen Ernennung im Schloss Bellevue nimmt Merkel – cremefarbener Blazer, schwarze Hose – im Bundestag wieder auf der Regierungsbank Platz. „... so wahr mir Gott helfe!“Um 12.02 Uhr ist es geschafft. Die Kanzlerin spricht die letzten Worte ihres Amtseides. Bundestagspräsident Schäuble gratuliert noch einmal, die Abgeordneten erheben sich und applaudieren. Diesmal gibt es auch Beifall von den Sozialdemokraten und der Opposition. Nur bei der AfD rührt sich keine Hand. Start frei in die nächste Amtszeit: Merkel, die Vierte.
Der Zeitplan an diesem Tag ist eng getaktet bei diesem „Hochamt der Demokratie“. Viel Zeit zum Feiern bleibt zunächst nicht. Die Kanzlerin zieht sich mit ihrer Familie und engsten Weggefährten in ihr Büro im Reichstag zurück. Merkel und ihr neues Kabinett pendeln an diesem Tag zwischen Parlament und Präsidialamt, wo es auch für die Minister die Ernennungsurkunde und mahnende Wort gibt.
Steinmeier mahnt
„Willkommen Bundesregierung. Das wurde aber auch Zeit“, begrüßt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Merkel und ihr neues Kabinett im Schloss Bellevue. Fast ein halbes Jahr, 171 Tage nach der Bundestagswahl, zeigt sich auch das Staatsoberhaupt erleichtert, warnt aber auch: „Ein schlichter Neuaufguss des Alten“werde nicht reichen, um verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Die Bundesregierung müsse sich neu und anders bewähren, fordert Steinmeier. Die neue Regierung sei gut beraten im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern, „genau hinzuhören und hinzuschauen, auch auf die alltäglichen Konflikte im Land“, rät das Staatsoberhaupt. Über Themen wie Flüchtlingspolitik und Migration, Integration und Heimat müssten „offene und ehrliche Debatten“geführt werden. Es sei gut, „dass die Zeit der Ungewissheit und Verunsicherung vorbei ist“, sagt Steinmeier. Schließlich stehe die Demokratie vor einer Bewährungsprobe. Bereits am Nachmittag kam die Regierung im Kanzleramt zur ersten Kabinettssitzung zusammen.