Der Glöckner von Notre Dame
Die Stuttgarter Neuauflage des Musicals um den entstellten Quasimodo ist ein Appell an die Menschlichkeit
- Drei Männer lieben eine Frau – das kann nicht gutgehen. So nachzulesen bereits in Victor Hugos Vorlage „Der Glöckner von Notre Dame“aus dem Jahr 1831. Und auch im gleichnamigen Musical, das am Sonntagabend im Stuttgarter Apollo Stage Theater Premiere feierte, finden der entstellte Quasimodo und die schöne Esmeralda erst im Tod zueinander. Es ist großes Theater, das der Musical Veranstalter Stage Entertainment aus Hamburg da zusammen mit Disney auf die Bühne bringt: ein bewegendes Drama um die eine große Liebe, um Vertreibung und Ausgrenzung – so berührend gespielt, dass man die musikalische Schwäche dieses Musicals fast vergisst.
Dass es mehr ein Theater- als ein Musicalabend wird, deutet sich schon in der Eingangsszene an: Quasimodo, beziehungsweise der Darsteller David Jakobs, betritt die Bühne, nimmt zunächst die Rolle des Erzählers ein und schnallt sich dann seinen Quasimodo-Buckel um, beschmiert sich das Gesicht mit Ruß und verwandelt sich vor den Augen der Zuschauer in das unansehnliche Monster, das vom Volk geächtet wird. Der gute alte Bert Brecht lässt grüßen mit seinem Verfremdungseffekt, der den Zuschauer dazu bringen soll, eine Haltung einzunehmen – ein Novum in der Welt der Musicals, die ansonsten auf Showeffekte zielt und den Zuschauer in eine Scheinwelt versetzt.
Regisseur Scott Schwartz und sein Drehbuchautor Peter Parnell haben bei der Neuauflage des Musicals andere Akzente gesetzt – und liegen damit richtig. 1999 wurde „Der Glöckner von Notre Dame“in Berlin uraufgeführt, lief drei Jahre erfolgreich, verschwand dann aber für 15 Jahre in der Schublade. Der Broadway zeigte kein Interesse: zu düster, europäisch eben. Und, man muss es einfach sagen: Dieses Musical hat einen Schwachpunkt, nämlich die Musik. Komponist Alan Menken schrieb die Lieder zu Musicals und Filmen wie „Die Schöne und das Biest“, „Arielle, die Meerjungfrau“, „Sister Act“, „Aladdin“und „Pocahontas“, alle erfolgreich und zum Teil Oscarprämiert. Aber die Arbeit an dem „Glöckner“fiel wohl nicht in seine kreativste Phase. Und so sind nach einer Überarbeitung zusammen mit Stephen Schwartz die Lieder zwar gefälliger als in der Urfassung, und der gregorianische Gesang des Chors unterstreicht gekonnt die düstere Atmosphäre in der Kathedrale. Aber in Erinnerung bleiben die Lieder dennoch nicht, auch wenn sie noch so bombastisch klingen.
Das Musical wird politisch
Schwartz und Parnell ist es gelungen, aus der Musik-Not eine Tugend werden zu lassen. In vielen Musicalproduktionen dienen Dialoge dazu, von einer Liednummer zur nächsten überzuleiten, werden leider allzu oft von versierten Sängern aus aller Welt dahingenuschelt, zum Teil in sinnentleertem Deutsch. Das ist hier anders. Damit angesichts der Textlast der Überblick nicht verloren geht, schlüpft der eine oder andere Darsteller kurz in die Rolle des Erzählers – und berichtet von dem kleinen Waisenjungen Quasimodo, der von seinem Ziehvater, dem Domprobst Claude Frollo, großgezogen wird, im Glockenturm fernab der Menschen. Als der erwachsene Quasimodo sich doch einmal auf den Platz vor der Kathedrale wagt, wird er von den Menschen wegen seines hässlichen Aussehens gedemütigt und misshandelt. Nur die Zigeunerin Esmeralda hilft ihm.
Quasimodo verliebt sich in die schöne Frau. Aber auch der bigotte Frollo begehrt sie, ebenso wie der Hauptmann Phoebus de Martin, der von unzähligen Schlachten ermüdete Kriegsheimkehrer, dem der Bischof eine Stelle als Wächter der Kathedrale anbietet – die er um jeden Preis behalten möchte. Es sind fein herausgearbeitete Charaktere wie die des Hauptmanns, der sich entscheiden muss zwischen einer lukrativen und sicheren Stelle und der Liebe zu einer Frau, die der Handlung Tiefe verleihen.
Noch wichtiger aber sind in der Neuauflage des „Glöckners“ganz aktuelle Bezüge, aktuell und doch uralt, wie die Verfolgung der Zigeuner, die hier noch so heißen wie im literarischen Original. Da spricht Frollo von „offenen Grenzen“und einer „Überflutung durch Ausländer“auf der einen Seite. Und am Ende steht ein berührendes Plädoyer für Menschlichkeit gegenüber den Verfolgten dieser Welt. So politisch war Musical bislang selten.
Musiktheater braucht gute Schauspieler. Mit Felix Martin, der mit seinen 53 Jahren schon als alter Hase auf der Musicalbühne gilt, wurde die ideale Besetzung für Frollo gefunden. Die Schwedin Mercedesz Csampai hat russische und ungarische Wurzeln und verfügt über ausreichend Temperament für die Rolle der Esmeralda, auch Maximilian Mann als Hauptmann Phoebus überzeugt. Doch getragen wird der Abend von David Jakobs. Der Quasimodo des 34-Jährigen ist tumb und hässlich auf der einen Seite, verletzlich und konsequent in seiner Liebe auf der anderen.
Nicht jeder Musical-Fan wird dieses Theater mit Musik schätzen. Doch ein wichtiger Impuls geht auf jeden Fall von dieser Inszenierung aus: Auch ein Musical kann politisch Stellung beziehen – und dennoch gut unterhalten.