Detektivarbeit
Wie die Wilhelm-Tell-Erstausgabe nach Überlingen kam
ÜBERLINGEN (dpa) - Braun ist das kleine Buch, ein wenig abgegriffen, am Rand mancher Seiten sind speckige Fingerabdrücke zu sehen. Erst beim zweiten Blick wird sichtbar, was für einen Schatz die Leopold-Sophien-Bibliothek in Überlingen da hütet: Das Werk ist eine Erstausgabe von Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“– inklusive eigenhändiger Eintragungen des berühmten Dichters. Aber wie kommt ein solches Werk von Schiller – in Marbach geboren, bei Stuttgart studiert, gelebt vor allem in Weimar – ausgerechnet an den Bodensee?
„Wir wissen es nicht“, sagt Oswald Burger. Der Überlinger Historiker hat sich in den vergangenen Jahren gemeinsam mit Bibliotheksleiterin Roswitha Lambertz in detektivischer Kleinarbeit daran gemacht, das Rätsel zu lösen. Ihr Tatverdächtiger: Der älteste Sohn des Dichters, Carl Friedrich Ludwig. Als sein Vater starb, war er elf Jahre alt – acht Jahre später notiert er in dem Buch: „Die Seiten 6 u 15 mit Bleistift geschriebenen Zeilen sind von meines seeligen Vaters Hand. v. Schiller“, er unterschreibt mit „Carl v. Schiller 1812“.
Nach dem Tod Schillers wurde Carl erst Page am Weimarer Hof, von 1810 bis 1815 studierte er Forstwissenschaft in Heidelberg, Tübingen und Jena. 1819 erhielt er seine erste berufliche Anstellung als Revierförster im Staatsforst im oberschwäbischen Altshausen. „Das war rund 40 Kilometer von Überlingen entfernt“, sagt Burger. Seine Theorie: „Ich glaube, Carl hat Werke seines Vaters aus Geldgründen verkauft.“Denn finanziell lief es bei dem Schiller-Sohn nicht gut: „Er war bedürftig.“
Einen potenziellen Käufer haben Lambertz und Burger ausgemacht: Den Überlinger Stadtpfarrer Franz Sales Wocheler. „Er hat zwar sparsam gelebt, aber viel Geld für Bücher ausgegeben“, sagt Lambertz. Zudem habe Wocheler sich für zeitgenössische Literatur und für Schiller interessiert.
Käufer war wohl ein Pfarrer
Der gebildete Pfarrer habe vermutlich gehört, dass ein Sohn Schillers in Altshausen Revierförster war. „Oder erfuhr Carl von Schiller, dass in Überlingen ein aufgeklärter Büchernarr Pfarrer geworden war? Jedenfalls könnten sich die beiden zwischen 1820 und 1822 getroffen haben, und Schiller besserte seine kargen Einkünfte durch den Verkauf seiner Schiller-Reliquie auf “, erklärt Burger.
Wocheler habe die Leopold-Sophien-Bibliothek 1832 gestiftet und in sie auch seine eigene, etwa 10 000 Bände umfassende Privatsammlung eingebracht. Wann die Wilhelm-Tell-Ausgabe dort einzog, lasse sich nicht mehr exakt nachvollziehen. „Es muss aber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen sein“, so Burger. 1862 wurde das Werk bereits in einem Katalog erwähnt, in Fachkreisen habe man bereits im 19. Jahrhundert davon gewusst.
Erschienen ist die Erstausgabe 1804, wie Lambertz sagt. Schiller selbst habe von seinem Verleger 18 Exemplare erhalten, einige davon aber sicher verschenkt. Drei Exemplare seien in seinem Besitz geblieben, zwei davon noch heute erhalten: Eines in Überlingen, ein weiteres im Schiller National Archiv in Marbach. Beide enthalten handschriftliche Notizen Schillers.
Eine Erstausgabe von Wilhelm Tell sei erstmal gar nicht so ungewöhnlich, erzählt Helmut Mojem vom Deutschen Literaturarchiv Marbach. „Die Auflage war damals relativ hoch. Es ist ja auch das letzte vollendete Werk Schillers, der damals schon recht berühmt war.“Anders sei es, wenn das Werk eine Widmung des Autors hat. „Heute ist das ja inflationär, wenn die Autoren Lesungen machen. Aber zu Schillers Zeit lässt sich daraus wirklich eine persönliche Beziehung ableiten.“
Noch höher gewertet würden wiederum Eintragungen des Autors – wie sie die Erstausgabe in Überlingen trägt. „Schiller hat ja Verbesserungen eingetragen, die er in einer späteren Ausgabe noch anbringen wollte. Das nähert sich dann einer Werkhandschrift“, sagt Mojem. Genau 15 Worte finden sich dort von Schillers Hand. Für die Leopold-Sophien-Bibliothek ist das durchaus ein großer Schatz.