Irrweg der Rassenhygiene
Uwe Timm ist mit seinem Roman „Ikarien“ein Meisterwerk gelungen
Als Kind verlief sich Uwe Timm anfangs im Haus seines Onkels in Coburg. Der alliierten Bombenangriffe auf Hamburg wegen, hatte man ihn dorthin evakuiert. Nur durch kräftiges Schreien fanden die Erwachsenen ihn in den verwinkelten Räumen wieder. Ganz ähnlich muss es ihm mit seinem neuen Buch ergangen sein, in dem das Haus des Onkels einen Ehrenplatz erhielt. „Die Anfänge des Projektes ,Ikarien’ reichen zurück in das Jahr 1978, als ich den Roman ,Morenga’ abgeschlossen hatte“, schreibt Timm in der Danksagung am Ende. Irgendwie aber wollte sich keine epische Struktur für den Stoff finden. Immer wieder geriet er in Sackgassen. Beinahe 40 Jahre recherchierte er für den Roman. Jetzt ist er endlich erschienen und er ist ein Meisterwerk geworden.
Uwe Timm begibt sich darin auf Spurensuche und erzählt vom Großvater seiner Frau Dagmar, dem deutschen Arzt und Eugeniker Alfred Ploetz, der den Begriff der „Rassenhygiene“prägte und in den 1930erJahren starken Einfluss auf die nationalsozialistische Rassenlehre hatte. Schon als Primaner fasziniert diesen Ploetz die Vererbungslehre von Ernst Haeckel und Charles Darwin. Mit zwei Schulkameraden gründet er einen ersten Geheimbund „Zur Ertüchtigung der Rasse“. Später sympathisiert er mit den Kommunisten und flieht, als Otto von Bismarck das Sozialistengesetz erlässt, nach Amerika, wo er bei den Ikariern in Texas lebt. Gemeint ist damit eine Kolonie von Utopisten, die sich auf den Franzosen Étienne Cabet berufen.
Weil auch unter den Siedlern kein Friede herrscht, kehrt Ploetz nach Europa zurück und studiert Medizin. Ist er doch überzeugt, die „nordische Rasse“durch Sterilisierung der Schwachen und Auswahl der Arier optimieren zu können. Er liefert den Nazis das wissenschaftliche Fundament für ihren Rassenwahnsinn und die Vernichtung der Juden. Während des Weltkrieges lebt er zurückgezogen auf einer Burg am Ammersee, wo er als überzeugter Abstinenzler an Kaninchen beweisen will, dass Alkohol die Keimzellen schädigt. Eine ganze Reihe von Geheimbünden zur „Rettung der nordischen Rasse“hat dieser Alfred Ploetz gegründet, der 1936 von Hitler zum Professor ernannt und im selben Jahr – man glaubt es kaum – für den Friedensnobelpreis nominiert wurde.
Was für ein Stoff! Und Uwe Timm ist es gelungen, ihm eine adäquate Form zu geben, in dem er den deutschstämmigen US-Soldaten Michael Hansen 1945 nach Europa kommen lässt. Weil er deutsch spricht, soll er dort im Auftrag der Army über den Eugeniker Alfred Ploetz forschen und dessen Archiv sichern. Er befragt in mehreren Sitzungen einen ehemaligen Freund des Rassenforschers, der – mit einer Jüdin liiert – den Krieg nur überlebte, weil er sich im Keller eines Antiquariats versteckt hielt. Weite Teile des Romans bestehen aus Gesprächsprotokollen mit diesem Dissidenten Karl Wagner. Dazu kommen Tagebucheinträge Hansens und Passagen, die in der dritten Person erzählt werden.
Abrechnung mit den Vorfahren
Mit seinem Roman „Ikarien“, den man durchaus als Lebenswerk bezeichnen darf, ist es dem 1940 geborenen Uwe Timm auf beeindruckende Weise gelungen, an die großen Nachkriegsromane von Wolfgang Koeppen oder Heinrich Böll anzuknüpfen. Ausgezeichnet fängt er die Atmosphäre im Nachkriegsdeutschland ein, in dem die amerikanischen Soldaten nach dem Ende der Kämpfe fast wie im Urlaub leben.
Immer schon sah Timm es als Nachgeborener als seine Aufgabe an, mit der Elterngeneration abzurechnen. Ob in der Erzählung „Am Beispiel meines Bruders“(2003), in der er sich mit dem Beitritt des älteren Bruders zur Waffen-SS auseinandersetzte. Oder in seinem wohl bekanntesten Buch „Die Erfindung der Currywurst“(1993), in dem die von den Männern enttäuschte Frau Bremer sich nach dem Krieg emanzipiert und eine Imbissbude aufmacht. Zwar schreibt der Alt-68er heute keine Agit-Prop-Gedichte mehr wie früher. Sein Stück zur Erinnerungskultur aber trägt Timm auch weiterhin bei. Ein sehr reifes, ein wichtiges Buch.
Uwe Timm: Ikarien, Kiepenheuer & Witsch, 506 Seiten, 24 Euro.