Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Neue Dimension von Tod und Zerstörung
Jahrestag der Ukraine-Invasion – Unter Putins Angriffskrieg leiden Millionen Menschen – Weltbank schätzt Wiederaufbaukosten auf Hunderte Milliarden Dollar
GENF - Am Abend des 10. Februars 2024 attackierte Russlands Militär die zweitgrößte Stadt der Ukraine, Charkiw. Ein Öllager ging bei dem Drohnenangriff in Flammen auf. „Das Feuer weitete sich auf nahe gelegene Häuser aus, und die örtlichen Behörden berichteten von mehr als 50 Opfern“, schrieb kurz darauf das Büro der Vereinten Nationen zur Koordinierung humanitärer Angelegenheiten. Ein Ehepaar und seine drei kleinen Kinder starben. Ein halber Straßenzug wurde vernichtet. Charkiw erlebte an diesem Tag nur eine der vielen Tragödien, die Russland Angriffskrieg über die Ukraine bringt.
Vor genau zwei Jahren, am 24. Februar 2022, starteten Truppen des Präsidenten Wladimir Putin den groß angelegten Überfall auf das Nachbarland. Nun ziehen die Vereinten Nationen und andere Organisationen eine Zwischenbilanz des schlimmsten Konflikts in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. „Die Eskalation im Jahr 2022 hat eine ganz neue Dimension von Tod, Zerstörung und Verzweif lung ausgelöst“, urteilt der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths. Heute benötigen knapp 15 Millionen Menschen in der Ukraine Essensrationen, Wasser,
Medizin und andere Unterstützung. „Die humanitäre Lage im Land ist dramatisch“, unterstreicht der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi.
Putins Aggression hat auch einen gigantischen Schaden angerichtet, den die Ukrainer nur langfristig beseitigen können. Die Kosten eines Wideraufbaus könnten sich auf 486 Milliarden US-Dollar über die nächsten zehn Jahre belaufen. Das geht aus einer Studie mit Stichtag 31. Dezember 2023 hervor, die von der Weltbank, der EU-Kommission, den UN und der Kiewer Regierung veröffentlicht wurde. Zwar betonen die Autoren, dass aufgrund der Kriegssituation die Datenerhebung mit Schwierigkeiten verbunden war. Trotzdem steht fest: Die Verluste der Ukraine haben ein „beispielloses“Ausmaß erreicht, wie Antonella Bassani, Vizepräsidentin der Weltbank für Europa und Zentralasien, analysiert.
Weltbank und Partner veranschlagen die direkten Kriegsschäden in der Ukraine inzwischen auf fast 152 Milliarden US-Dollar. Stark betroffen sind die Bereiche Wohnen, Verkehr, Handel und Industrie, Energie und Landwirtschaft. Zwei Beispiele: Rund 8400 Kilometer Autobahn, Schnellund Nationalstraße sind ganz oder teilweise unpassierbar. Zehn Prozent des Wohnungsbestands sind vernichtet oder unbrauchbar.
Die größte Spur der Verwüstung ziehen die Russen mit Explosivwaffen wie Artilleriegeschossen, Raketen, Panzergranaten, Streumunition und Drohnen. Eine Frau aus Charkiw schildert einen Angriff mit Explosivwaffen
am 23. Januar 2024: „Mein Mann zog mich vom Fenster weg und wir wurden von der Druckwelle mehrere Meter zurückgeschleudert.“Das Gesicht ihres Ehepartners sei mit Schnittwunden entstellt und blutüberströmt gewesen. „Als wir uns umdrehten, war die Hälfte unseres Hauses weg“, erinnert sich die Ukrainerin.
Mit über 499 Milliarden US-Dollar Verlust schlagen Produktionsunterbrechungen, Wegfall wirtschaftlicher Aktivitäten und die Räumung von Kriegsschutt zu Buche. Bestimmte Branchen trifft es besonders hart: Seit Februar 2022 verzeichnet der Sektor Kulturund Tourismus Einnahmeausfälle in Höhe von gut 20 Milliarden USDollar. „Mehr als die Hälfte dieses Verlustes entfällt allein auf die Stadt Kiew, was vor allem auf den Rückgang der Touristenzahlen und die plötzliche Verlangsamung der Kreativwirtschaft zurückzuführen ist“, berichtet die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (Unesco).
Wer soll für die immensen Schäden finanziell aufkommen? Die ukrainische Regierung will den Aggressor zur Kasse bitten. „Die wichtigste Ressource für den Wiederaufbau der Ukraine sollte die Beschlagnahmung der im Westen eingefrorenen russischen Vermögenswerte sein“, verlangt Premierminister Denis Schmyhal.
Doch verlieren die Ukrainer durch Tod und Flucht täglich Menschen, die durch keine Zahlungen ersetzt werden können. Es ist wichtiges Humankapital, das bei einem Wideraufbau schmerzlich vermisst werden wird. Insgesamt erfassten die UNErmittler
seit Beginn der Großinvasion des Kremls bis zum 7. Februar 2024 mehr als 10.000 getötete und knapp 20.000 verletzte Zivilisten. Die tatsächliche Zahl dürfte weitaus höher liegen.
Die Anzahl der Toten bei den Streitkräften lässt sich kaum ermitteln. Die Armee auf beiden Seiten hält die Zahlen ihrer eigenen Opfer unter Verschluss. Im August 2023 zitierte die „New York Times“US-Beamte, die die militärischen Verluste der Ukraine auf 70.000 Tote und zwischen 100.000 und 200.000 Verletzte bezifferten. Am 29. Januar nannte James Heappey, Staatsminister für die britischen Streitkräfte, in einer schriftlichen Antwort auf eine parlamentarische Anfrage die Zahl von mehr als 350.000 Toten und Verletzten auf russischer Seite.
Am 20. Februar schätzte die ukrainische Armee, sie habe seit der Invasion mehr als 405.000 russische Soldaten getötet oder verletzt. Kiew sagte nicht, ob dabei Verluste bei prorussischen Separatisten in der Ost-Ukraine und bei Söldnern der paramilitärischen Wagner-Truppe mitberücksichtigt wurden oder ob sich die Opferzahl nur auf die russische Armee bezieht. Wie auch immer, die Statistiken spiegeln das Grauen und Verderben wider.