Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Momente für die Ewigkeit

- Von Antje Merke

Jeff Wall ist ein Meister der fotografis­chen Erzählung und rätselhaft­en Realitäten – Seine Bilder sind aktuell in der Fondation Beyeler bei Basel ausgestell­t

BASEL - Von der Vorstellun­g, dass die Fotografie ein getreues Abbild der Wirklichke­it ist, haben wir uns in Zeiten sozialer Medien längst verabschie­det. Ein Großteil der Bilder im Netz ist gestellt, überarbeit­et, optimiert, verfremdet. Durch

Deepfakes, also

Fotos oder Videos, die mithilfe von Künstliche­r Intelligen­z absichtlic­h verändert werden, löst sich die

Glaubwürdi­gkeit inzwischen völlig auf. Der kanadische Künstler Jeff Wall (Foto: amma) lotet schon seit 1978 die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, Zufall und Konstrukti­on aus. Mit seinen großformat­igen Leuchtkäst­en hat er die Fotokunst geprägt wie kein Zweiter. Jetzt widmet ihm die Fondation Beyeler in Riehen bei Basel eine grandiose Überblicks­schau.

Wer den Raum betritt, ist schon gefangen: „Dead Troops Talk“– „Tote Soldaten sprechen“heißt eines der monumental­sten Bilder der Ausstellun­g. Das beleuchtet­e Großdia zeigt blutversch­mierte Leichen getöteter Soldaten an einem steinigen Hang. Aber wer näher an den imposanten Lichtkaste­n kommt, entdeckt: Mit diesem Kriegsscha­uplatz stimmt etwas nicht. Die Toten liegen nicht leblos da, sie scheinen ihre Wunden zu betrachten und reden miteinande­r. Eine Szene wie aus einem Horrorf ilm. Jeff Wall bezeichnet die Arbeit von 1992 als Vision, die Bezug auf den Russland-Afghanista­n-Krieg nimmt.

Das Werk im Stil der Historienm­alerei ist vor mehr als 30 Jahren mittels digitaler Bildverarb­eitung in monatelang­er Studioarbe­it entstanden. Heute – vor dem Hintergrun­d der Kriege in der Ukraine und in Gaza – sehen wir das Bild ganz neu. Es steht exemplaris­ch für das, was viele Arbeiten dieser Ausstellun­g auszeichne­t: Die Fotos von Jeff Wall tragen eine gewisse Zeitlosigk­eit in sich. Eine Eigenschaf­t, die dem 77-jährigen Künstler besonders wichtig ist.

Die Ausstellun­g mit 55 von 195 Bildern aus dem Gesamtwerk umfasst elf Säle. In diesen werden Werke jüngeren Datums älteren gegenüberg­estellt, manche sind inzwischen Ikonen, manche weltweit erstmals zu sehen. So entsteht eine Art Parcours, der zum Vergleiche­n, zum genauen Hinschauen anregt. Jeder Raum ist ein eigener Bilderkosm­os und zeigt die enorme Bandbreite von

Walls Motiven. Hin und wieder potenziere­n sich die Arbeiten auch gegenseiti­g. Das ist natürlich Absicht. Stilistisc­h sind die Fotos alle dem Realismus zuzuordnen. Es geht los mit Landschaft­spanoramen seiner Heimatstad­t Vancouver, wo Wall bis heute lebt und arbeitet. Im weiteren folgen Szenen, die in den verschiede­nsten Innen- und Außenräume­n, an öffentlich­en und privaten Orten entstanden sind. Es gibt Leuchtkäst­en, Drucke, schwarz-weiß, farbig, groß, klein.

Wall hat Kunstgesch­ichte studiert, als Professor gelehrt und schreibt seit den 1980er-Jahren regelmäßig Kunstkriti­ken und Essays. Der Mann ist ein sorgfältig­er Beobachter. In seinen Bildern lenkt er immer wieder den Blick auf übersehene Momente des Alltags, auf das Hässliche in der Idylle oder umgekehrt. In vielen Arbeiten zeigt er prekäre gesellscha­ftliche Verhältnis­se, aber auch das Leben der Mittelund Oberschich­t.

In „The Storytelle­r“etwa sitzen mehrere Indigene auf einer trostlosen

Künstler Jeff Wall Brachfläch­e am Rand einer Autobahn. Man fühlt geradezu ihre Hoffnungsl­osigkeit. Drei Personen haben sich um ein Feuer versammelt, eine von ihnen ist die Geschichte­nerzähleri­n.

Was wie ein Schnappsch­uss wirkt, ist in Wahrheit in Szene gesetzt. Für seine Fotos baut Jeff Wall, ähnlich wie beim Film, ein Set auf. Jede scheinbar zufällig ins Bild verirrte Figur wird einzeln inszeniert, fotografie­rt und am Ende alles zusammenge­setzt – in mühevollst­er Kleinstarb­eit. Die Bilder stecken voller versteckte­r Zitate aus der Kunstgesch­ichte und Literatur.

„Realismus ist, wenn die Kunst noch lebendiger wirkt als das Leben selbst“, sagt Jeff Wall. Tatsächlic­h sind seine Fotos sehr präsent und greifbar. Das liegt sicher an den vielen kleinen Details, die der Kanadier mit der Kamera einfängt, aber auch am großen Maßstab, mit dem er arbeitet. Walls Werke haben zugleich auch immer etwas Geheimnisv­olles, Unerklärli­ches, das die Betrachter dazu bringt, die Erzählunge­n rund um die eingefrore­nen Momente zu Ende zu denken.

Was passiert mit dem kleinen Mädchen in „Parent Child“(Elternteil Kind), das sich mitten auf dem Gehweg im weißen Sommerklei­d auf den Boden gelegt hat? Warum hat sich das wohlhabend­e Paar im Wohnzimmer in „Pair of interiors“offensicht­lich nichts mehr zu sagen? Jeff Walls Bilder sind eben nicht nur Zeugnis einer bestimmten Gegenwart. Sie stellen Fragen zur Zukunft. Eine weitere Stärke: Seine Motive stammen aus unterschie­dlichen Lebenswelt­en, jeder findet auf die eine oder andere Weise einen Bezug zum eigenen Leben.

Ein besonders berührende­s Foto ist „Invisible Man“(Der unsichtbar­e Mann) nach einem Roman von Ralph Ellison. Ein Schwarzer sitzt im weiß gerippten Unterhemd in einem fensterlos­en Keller und poliert einen Topf, während über ihm Hunderte von Glühbirnen die Decke überziehen und zum Teil glimmen. Die entstehend­e Hitze der Lampen ist derart groß, dass ein Stück Käse auf einem unter der Decke hängenden improvisie­rten Blechgrill zu schmelzen beginnt. Ein Wimmelbild, das einen so schnell nicht loslässt. Man spürt regelrecht die Hitze der Birnen. Wieder so ein Bild, das vermutlich auch noch in ferner Zukunft funktionie­ren wird.

„Realismus ist, wenn die Kunst noch lebendiger wirkt als das Leben selbst.“

Dauer: bis 21. April, Öffnungsze­iten: täglich von 10 bis 18 Uhr, mittwochs von 10 bis 20 Uhr. Der Katalog mit Texten von Jeff Wall kostet 58 Euro.

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FOTOS: JEFF WALL Jeff Walls Fotos sind sehr erzähleris­ch angelegt: Oben ist „Der unsichtbar­e Mann“(1999/2000) nach dem Roman von Ralph Ellison zu sehen. Das Bild unten heißt schlicht „Elternteil Kind“(2018).
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