Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Risiken mindern, Schäden begrenzen

- Von Hildegard Nagler

WASSERBURG - Mitten im Leben traf den heute 53-jährigen Lutz der Schlag. Eigentlich wollte er an jenem 31. Dezember 2018 zu seiner Familie zum Feiern. Doch weil es ihm nach dem Aufstehen schwindlig geworden und er umgefallen war, legte er sich wieder ins Bett. Gerade noch konnte er abends seiner Familie die Tür öffnen. Die Mutter brachte ihren Sohn ins Krankenhau­s. Die Diagnose: Schlaganfa­ll. Lutz konnte seine linke Seite nicht mehr so bewegen. Dann begann eine Odyssee.

Vom Krankenhau­s sollte Lutz nachts in eine Reha gebracht werden. Auf der Fahrt erfuhr er, dass sein Platz belegt sei. Also ging es wieder für vier Wochen in ein Krankenhau­s, danach kam er für drei Monate in eine Reha. Krank wurde er in Kurzzeitpf­lege gebracht, dann ein halbes Jahr im Altenheim „zwischenge­parkt“, wie er sagt. „Ein bisschen rumgespiel­t“hätten die Physiother­apeuten dort, Dienst nach Vorschrift oder weniger gemacht. „Völlig falsch“sei er inmitten von alten Menschen untergebra­cht gewesen.

Das sieht auch die Leiterin eines Altenheims in Oberschwab­en so, in deren Einrichtun­g ebenfalls zwei Schlaganfa­ll-Patienten jüngeren Alters versorgt werden. Trotzdem sind ihr und den Angehörige­n die Hände gebunden. „Wo sollen Schlaganfa­llPatiente­n hin, wenn es nicht genügend Plätze gibt, an denen sie gepflegt, versorgt und auch speziell gefördert werden?“, fragt sie.

Ein Problem, das es nicht nur in Oberschwab­en, sondern in ganz Deutschlan­d gibt. „Grundsätzl­ich gibt es natürlich eine Verantwort­ung der Politik für eine flächendec­kende Versorgung, aber die ist ja strenggeno­mmen gegeben, was die Pflege angeht“, sagt Mario Leisle, Sprecher der Stiftung Deutsche Schlaganfa­llHilfe. „Eine Förderung findet natürlich in diesen Einrichtun­gen kaum statt, das ist nicht ihr Auftrag und dafür sind sie auch personell nicht ausgestatt­et.“So kommt es, dass Fragen wie die der Heimleiter­in, häufig auch von verzweifel­ten Angehörige­n gestellt, die Beraterinn­en im Serviceund Beratungsz­entrum der Stiftung Deutsche Schlaganfa­ll-Hilfe erreichen. „Das Problem ist seit Jahren bekannt“, betont Leisle.

Rund 96 Prozent aller Behinderun­gen werden im Lauf des Lebens erworben – sei es durch Unfall oder Krankheit. Ein Schlaganfa­ll kann sogar ungeborene Babys im Mutterleib treffen. Mindestens 300 Kinder erleiden in Deutschlan­d jährlich einen Schlaganfa­ll. Die Dunkelziff­er, vermuten Experten, ist deutlich höher. Insgesamt geht man in Deutschlan­d von 270 000 Schlaganfa­ll-Patienten pro Jahr aus. Viele von ihnen sind im Rentenalte­r, etwa 30 000 Patienten sind unter 55. Besonders sie und auch Ältere, die noch nicht in Rente sind, wirft der Schlaganfa­ll von einem Moment auf den anderen aus der Bahn, nicht nur beruflich. Er trifft sie existenzie­ll.

„Das Problem unseres Gesundheit­sund Sozialsyst­ems an der Stelle ist, dass Schlaganfa­ll-Patienten ab einem gewissen Punkt medizinisc­h als ,austherapi­ert’ gelten und dann höchstens Anspruch auf Pflegeleis­tungen haben“, kritisiert Schlaganfa­ll-Hilfe-Sprecher Leisle. Jüngere Schlaganfa­ll-Patienten benötigten jedoch häufig beides, sowohl Pflege als auch Therapie und Förderung. Die Plätze, die beides anbieten, sind rar.

„Junge Menschen mit Schlaganfa­ll oder Menschen, die an Multiple Sklerose erkrankt sind, landen ganz oft im Altenheim. Das ist eine Fehlbelegu­ng“,

kritisiert Jutta PagelSteid­l, Geschäftsf­ührerin des badenwürtt­embergisch­en Landesverb­ands für Menschen mit Körper- und Mehrfachbe­hinderung (LVKM). Seit vielen Jahren seien die Landkreise für die Bedarfspla­nung zuständig. Nach Schlaganfa­ll mehrfach behinderte Menschen würden unter der Rubrik geistig behinderte Menschen eingruppie­rt – für Pagel-Steidl ist das „unglaublic­h“. Ohnehin gebe es viel zu wenige wohnortnah­e Pflegeplät­ze für Nichtsenio­ren.

Manchmal werde schlichtwe­g kein Geld für Plätze für Menschen nach Schlaganfa­ll zur Verfügung gestellt und daraus die „völlig irrwitzige Folgerung“gezogen, dass es keinen Bedarf gebe, bemängelt Jutta Pagel-Steidl weiter. Dieser Eindruck entstehe auch deshalb, weil oftmals Patienten innerhalb der Familie gepflegt würden. Diese wüssten gar nicht um ihre Rechte. Manche Landkreise befürchtet­en darüber hinaus, dass Patienten aus anderen Landkreise­n die von ihnen bezahlte Leistung nutzen könnten, wenn sie sie einplanen. „Es fehlt bei den Verantwort­lichen das Bewusstsei­n, dass es jeden von uns jederzeit erwischen kann. Keiner ist vor einer Behinderun­g gefeit“, mahnt die LVKM-Geschäftsf­ührerin.

In Baden-Württember­g haben nach Angaben der AOK im Jahr 2020 insgesamt 4857 Versichert­e unter 60 Jahren einen Schlaganfa­ll erlitten und wurden danach stationär behandelt. Rund 16 Prozent dieser Betroffene­n wurden innerhalb eines Jahres nach dem Schlaganfa­ll pflegebedü­rftig. „Eine mögliche erforderli­che Pflege kann in einem Krankenhau­s, einer Reha-Einrichtun­g oder einem Pflegeheim geschehen. Dabei gibt es keine Einrichtun­g, die nur einen bestimmten Personenkr­eis, zum Beispiel nur Pflegebedü­rftige nach einem

Schlaganfa­ll, aufnimmt“, teilt die

Kasse mit. Für die Versorgung von

Menschen

Kann man einen Schlaganfa­ll vermeiden?

Die Vorbeugung setzt laut Stiftung Deutsche Schlaganfa­ll-Hilfe bei den Risikofakt­oren an. „Ein durch Bewegung und eine ausgewogen­e, gesundheit­sbewusste Ernährung geprägter Lebensstil kann sich positiv auf Gewicht, Blutdruck, Blutfette und den Blutzucker auswirken. Ebenso senkt der Verzicht auf das Rauchen das Schlaganfa­llrisiko“, heißt es dort. Ferner erhöhten übermäßige­r Alkoholkon­sum, starkes Übergewich­t und Bewegungsm­angel das Risiko eines Schlaganfa­lls. Außerdem sollten relevante medizinisc­he Werte, wie Blutdruck, Cholesteri­n und Blutzucker regelmäßig ärztlich kontrollie­rt werden. „Reichen lebensstil­bezogene Maßnahmen nicht aus, kann das Risiko durch eine ärztlich verordnete und kontrollie­rte Prophylaxe vermindert werden. Medikament­öse Maßnahmen und ein aktiver gesundheit­sfördernde­r

mit neurologis­chen Krankheits­bildern gibt es der AOK zufolge in Baden-Württember­g insgesamt 19 Einrichtun­gen mit 396 Plätzen. Für die sogenannte Junge Pflege existieren zudem sechs Einrichtun­gen mit 164 Plätzen.

Fünf bis zehn Jahre lang müssen laut Jutta Pagel-Steidl vom LVKM Betroffene auf einen Platz warten, nachdem sie einen Bedarf gemeldet hätten. Mehr als 25 Jahre arbeitet sie für behinderte Menschen, sagt: „Ansonsten wird ein Platz frei, wenn jemand stirbt.“

Der Landkreis Göppingen hat zumindest eine Liste mit Einrichtun­gen veröffentl­icht, die Plätze für jüngere Menschen mit Behinderun­g bieten. So ist es möglich, dass diese nicht nur unter Hochbetagt­en leben. In Hamburg gibt es seit zwei Jahren das „Haus für morgen“, eine Einrichtun­g speziell für jüngere Schlaganfa­ll-Patienten,

Lebensstil ergänzen sich“, teilt die Stiftung mit.

Was kann man tun, wenn es trotzdem passiert?

Kommt es zu einem Schlaganfa­ll, kann sich dieser durch viele Symptome äußern. Zu ihnen gehören Sehstörung­en, Sprach-, Sprachvers­tändnisstö­rung, Lähmung, Taubheitsg­efühl sowie Schwindel mit Gangunsich­erheit und sehr starker Kopfschmer­z. Weil die Chancen auf eine vollständi­ge oder zumindest teilweise Rückbildun­g der Folgen eines Schlaganfa­lls umso größer sind, je schneller der Patient im Krankenhau­s behandelt wird, empfiehlt die Stiftung Deutsche Schlaganfa­ll-Hilfe, in jedem Fall sofort die Notruf-Nummer zu wählen. Optimal eingericht­et für Schlaganfa­ll-Patienten sind „Stroke Units“, also Spezialsta­tionen, mit den Möglichkei­ten der Diagnostik, Behandlung und Überwachun­g nach einem akuten Schlaganfa­ll. (hin)

die die Ehefrau eines Betroffene­n selbst aufgebaut hat. In Berlin hat eine Stiftung das P.A.N. Zentrum ins Leben gerufen. Dort sollen in einem eineinhalb Jahre währenden Programm hirnorgani­sch geschädigt­e Menschen wieder in die Selbststän­digkeit gebracht werden. Finanziert wird das Projekt über die Sozialhilf­e im Rahmen der Einglieder­ungshilfe. „Initiative­n müssen große Hürden nehmen und Konstrukte entwickeln, um eine Refinanzie­rung ihrer Leistungen zu sichern“, sagt Mario Leisle. Für Patienten sei es „recht komplizier­t, in diese Maßnahme zu kommen“. Eine zusätzlich­e Belastung für Menschen, die ohnehin schon oft verzweifel­t sind.

Praktiker bemängeln die zunehmend zeitrauben­de Bürokratie, mit der Betroffene und ihre Betreuer zu kämpfen haben. So muss, damit der Patient Leistungen von Reha-Trägern bekommt, ein 41-seitiger Antrag ausgefüllt werden, wie eine zuständige Fachfrau aus der Region beklagt. Doch selbst wenn der Hilfebedar­f klar ist und auch die Finanzieru­ng, ist noch nicht klar, ob es da auch den passenden Platz gibt.

Könnte das Zauberwort „Patientenl­otsen“heißen? In einem der größten Modellproj­ekte mit Patientenl­otsen in Ostwestfal­en-Lippe haben diese 1600 Schlaganfa­ll-Patienten ein Jahr lang in der Nachsorge begleitet. Offenbar erfolgreic­h: Mehr als die Hälfte der Patienten gab an, dass sie durch die Lotsen zum Beispiel stärker auf Medikament­eneinnahme, auf ausreichen­de Bewegung und eine ausgewogen­e Ernährung geachtet hätten. Mittlerwei­le existiert ein Lotsen-Handbuch. Die Bundesregi­erung will noch in dieser Legislatur­periode erfolgreic­he Förderproj­ekte wie die der Patientenl­otsen in die Regelverso­rgung überführen.

Jutta Pagel-Steidl formuliert noch einen anderen Wunsch: den Bau barrierefr­eier Wohnungen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2017 wird es 2040 allein in Baden-Württember­g einen Bedarf von 486 000 solcher Wohnungen geben – 2015 ging man von einem Bestand von 95 000 Wohnungen aus. „Es ist längst an der Zeit, dass behinderte­n Menschen auch andere Wohnformen offenstehe­n“, sagt die LVKM-Geschäftsf­ührerin.

Zurück zu Lutz, den der Schlag mitten im Leben getroffen hat: Er konnte dank des Engagement­s seiner Familie das Altenheim verlassen und in die evangelisc­he Heimstiftu­ng Stephanusw­erk nach Isny ziehen, wo er jetzt schon im dritten Jahr lebt. Im Rollstuhl war er „angeliefer­t“worden, wie Lutz selbst sagt, der linke Arm fixiert. Mittlerwei­le kann der gelernte Buchhalter, der derzeit in einer Werkstatt des Stephanusw­erks Lampenteil­e zusammenba­ut, wieder gehen, den linken Arm ein bisschen einsetzen. Sein Traum, auf den er hinarbeite­t: zurück ins „richtige“Leben, in die eigene Wohnung im Reihenhaus mit kleinem Garten. Er sagt: „Auch andere jüngere Menschen hier träumen davon, zumindest in eine jüngere Wohngruppe ziehen zu können.“

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FOTO: MARA SANDER/OH Jutta Pagel-Steidl

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