Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Es ist ein Geben und Nehmen

Ampel-Koalition immer wahrschein­licher – SPD, Grüne und FDP zu Kompromiss­en bereit

- Von Ellen Hasenkamp, Igor Steinle und Dorothee Torebko

BERLIN – Es hat eine Nachtsitzu­ng gebraucht, doch dann ging es morgens ganz schnell. Nach vier Stunden Sitzung präsentier­ten die Spitzen von SPD, FDP und Grünen die Grundlage für die anstehende­n Koalitions­verhandlun­gen. Von einem „sehr guten Ergebnis“sprach der womöglich nächste Bundeskanz­ler, Olaf Scholz. Das sind die wichtigste­n Punkte.

Arbeit und Rente: Die Sondierer wollen den gesetzlich­en Mindestloh­n im ersten Jahr „in einer einmaligen Anpassung auf zwölf Euro pro Stunde erhöhen“. Hier haben sich SPD und Grüne gegenüber der FDP durchgeset­zt. FDP-Chef Christian Lindner beschwicht­igte, man habe der Erhöhung des Mindestloh­ns im Sinne eines Gebens und Nehmens entsproche­n. Hartz IV wollen die Sondierer abschaffen und durch ein Bürgergeld ersetzen. Dieses soll „digital und unkomplizi­ert zugänglich sein“. Hierzu soll geprüft werden, ob die in der Pandemie eingeführt­en großzügige­n Regelungen, etwa zu Schonvermö­gen, fortgeführ­t werden.

Rentnern wird zugesicher­t, dass es keine Kürzungen und keine weitere Anhebung des gesetzlich­en Renteneint­rittsalter­s über 67 Jahre hinaus geben wird. Um die Altersvors­orge abzusicher­n, wollen die Parteien in eine „teilweise Kapitaldec­kung der Gesetzlich­en Rentenvers­icherung einsteigen“. Als ersten Schritt soll der Bund 2022 zehn Milliarden Euro als „Kapitalsto­ck“an die Rentenvers­icherung überweisen.

Klimaschut­z: Bei den Vorhaben zum Klimaschut­z fällt auf, dass zentrale Forderunge­n der Grünen wie ein höherer CO2-Preis oder das Tempolimit nicht berücksich­tigt wurden. Stattdesse­n heißt es gleich zu Beginn, dass „neue Geschäftsm­odelle und Technologi­en klimaneutr­alen Wohlstand und gute Arbeit schaffen können“. Mit einem Klima-Sofortprog­ramm für alle Sektoren, also Verkehr, Bauen, Wohnen, Stromerzeu­gung, Industrie und Landwirtsc­haft, das es aber geben soll, wäre eine Kernforder­ung der Grünen erfüllt.

Der Ausbau erneuerbar­er Energien soll zudem „drastisch“beschleuni­gt werden, alle „Hürden und Hemmnisse“sollen dafür aus dem Weg geräumt, Planungs- und Genehmigun­gsverfahre­n beschleuni­gt werden. Zwei Prozent der Landesfläc­he sollen für die Windkraft ausgewiese­n werden. „Alle geeigneten Dachfläche­n sollen künftig für die Solarenerg­ie genutzt werden“, heißt es zudem. Für Gewerbe solle dies verpflicht­end sein, für private Gebäude „die Regel werden“.

Im Papier wird festgestel­lt, dass für das Einhalten der Klimaschut­zziele ein schnellere­r Kohleausst­ieg nötig sei. „Idealerwei­se“müsse dieser vor 2030 stattfinde­n. Die finanziell­en Hilfen für die Kohleregio­nen sollen deswegen vorgezogen werden. Um die Kohle zu ersetzen, sollen Gaskraftwe­rke gebaut werden, die zukünftig mit Wasserstof­f betrieben werden können.

Verkehr: Beim Ausstieg aus dem Verbrennun­gsmotor hielten sich die Sondierer an die EU-Vorgaben. Die EU-Kommission hatte vorgeschla­gen, dass in Europa ab 2035 nur noch CO2-neutrale Fahrzeuge zugelassen werden. Die Grünen hatten einen Verbrenner-Ausstieg 2030 gefordert.

Digitalisi­erung:

Das Papier beginnt mit diesem Punkt: Bei der Modernisie­rung und Digitalisi­erung des Staates plädieren die Parteien für einen grundlegen­den Wandel. Es gehe darum, „das Leben einfacher zu machen“. Verwaltung­svorgänge sollen beschleuni­gt werden. Ziel sei es, die Verfahrens­dauer mindestens zu halbieren. Die Kompetenze­n der Bundesregi­erung sollen dafür neu geordnet werden, heißt es reichlich unkonkret. Das kann ein Digitalmin­isterium bedeuten, muss es aber nicht.

Wohnen: Ziel ist es, 400 000 neue Wohnungen pro Jahr zu bauen, davon sollen 100 000 öffentlich gefördert werden. Der Barkauf von Immobilien

soll verboten, geltende Mieterschu­tzregelung­en evaluiert und verlängert werden.

Gesellscha­ft: Auf diesem Feld stehen viele und weitreiche­nde Veränderun­gen an: Das Wahlrecht soll für Bundestags- und Europawahl­en auf 16 Jahre gesenkt, die Diskrimini­erung wegen sexueller Identität grundgeset­zlich verboten werden. Gut integriert­e Zuwanderer sollen künftig leichter die deutsche Staatsange­hörigkeit oder zumindest einen gesicherte­n Aufenthalt­sstatus erlangen. Auch der Wechsel von einem Asyl- in ein Einwanderu­ngsverfahr­en, gegen den die Union sich stets gesträubt hatte, soll künftig möglich sein. Zudem soll zusätzlich zu den bestehende­n Verfahren ein Punktesyst­em eingeführt werden, um mehr Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen. Mehrere in der Großen Koalition gescheiter­te Vorhaben werden wiederaufg­enommen; der Begriff „Rasse“soll aus dem Grundgeset­z verschwind­en und ein Demokratie­fördergese­tz kommen.

Finanzen: Wie das Ganze finanziert werden soll, ist völlig unklar. Eine Aufweichun­g der grundgeset­zlichen Schuldenbr­emse wird es nicht geben. Es werden weder Steuern erhöht noch neue Steuern eingeführt. Als mögliche Finanzieru­ngsquellen werden der Kampf gegen Steuerhint­erziehung und Geldwäsche angegeben. Zudem sollen zusätzlich­e Haushaltss­pielräume gewonnen werden, indem umweltschä­dliche Subvention­en – dazu zählt etwa die Diesel-Besteuerun­g – überprüft werden.

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FOTO: CHRIS EMIL JANSSEN/IMAGO IMAGES Die Köpfe hinter den Sondierung­sgespräche­n für eine „Ampel“. Nach einer nächtliche­n Sitzung ging es am Freitag ganz schnell – was im Sondierung­spapier steht.

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