Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Wenn das Altenheim zum Tatort wird
Italiens Pflegeheime sind besonders von Infektionen mit dem Coronavirus betroffen – Jetzt ermittelt die Polizei
ROM - Polizeirazzien in Altenheimen: Ermittelt wird wegen fahrlässiger Tötung im Fall von Tausenden alter Menschen. Der Skandal um Altenheime und das Coronavirus wird mit jedem Tag größer. Inzwischen ist nicht nur die Region Lombardei betroffen. Auch in Piemont und Venetien sowie in der Emilia Romagna und der Toskana wird vermutet, dass mit dem Schutz der Bewohner vor der Virusinfektion viel zu spät begonnen wurde.
Rund 300 000 Menschen verbringen ihren Lebensabend in italienischen Altenheimen. Mindestens 4 000 von ihnen sind inzwischen an den Folgen des Coronavirus verstorben. Eine genaue Zahl ist unbekannt. Auch deshalb ermittelt die Polizei in Dutzenden von Fällen gegen die Direktion zahlloser Altenheime. Der Nationale Gesundheitsrat, eine Einrichtung des Gesundheitsministeriums, versucht mit einem Schwarzbuch diesem Phänomen auf die Spur zu kommen. In den 572 untersuchten Altenheimen (von insgesamt 4 629) sind von 44 457 Bewohnern im Monat März 3 859 an den Folgen des Virus gestorben. Allein in der Lombardei wurden 1 822 Tote gezählt.
Einige Altenheime stechen mit besonders hohen Todeszahlen hervor. Etwa in dem Mailänder Vorort Mediglia. Dort sind von 150 Bewohnern 64 an dem Virus verstorben. In der Kleinstadt Bergamo, eines der Epizentren der Pandemie in Italien, starben rund 10 Prozent aller Heimbewohner.
Es war die Verzweiflung der Hinterbliebenen, die die Polizei auf den Plan rief. Wochenlang, berichteten sie in italienischen Medien und dann auch der Polizei gegenüber, seien sie von Mitarbeitern der Altersheime in Sicherheit gewogen worden. Es sei alles unter Kontrolle, habe es immer wieder geheißen.
Seit Anfang März sind die Altenheime Italiens für Verwandte der Bewohner nicht mehr zugänglich. Der sprunghafte Anstieg von Todesfällen
unter den alten Menschen und das ständige Schönreden durch Mitarbeiter der Einrichtungen führte zur Bildung von Bürgerkomitees. Sie fordern Aufklärung über den Tod ihrer Verwandten und über den Umgang mit den Bewohnern. Antworten gab es nur selten.
Und so ermittelt jetzt die Polizei. Sie geht der Frage nach, was getan wurde, um die Heimbewohner vor einer Ansteckung zu schützen. Und ob das Personal in den Altenheimen ausreichend vorbereitet und mit den entsprechenden Schutzvorkehrungen ausgestattet war oder nicht. Es besteht der dringende Verdacht der Vertuschung der Todesumstände von einige Tausend alten Menschen. Besonders dramatisch ist der Fall des Mailänder Altenheims Pio Albergo Trivulzio. Es ist das älteste und größte Heim dieser Art in Italien. Offiziell heißt es aus dem Trivulzio, dass von den 1012 Bewohnern „nur“100 Personen gestorben seien. Befürchtet wird, dass die Todeszahl weitaus höher liegen könnte.
Aussagen einer Angestellten zufolge wurde dem Personal dieses Heims noch Anfang März verboten, als das Coronavirus in Mailand schon schwer zugeschlagen hatte, Mundschutz zu tragen. Ähnliche Verbote gab es in vielen anderen Altenheimen. Begründet wurde das mit dem Hinweis darauf, dass man die Bewohner nicht beunruhigen wolle. Personal, dass sich diesem irrationalen Verbot widersetzte, wurde entlassen.
Der Polizei zufolge wurden in vielen Altenheimen infizierte nicht von gesunden Bewohnern getrennt. Mundschutz, Handschuhe und Schutzkittel wurden nicht angeschafft und fehlendes Personal nicht ersetzt. Den Ermittlern zufolge hätte man viele alte Menschen vor dem Tod retten können. Nicht ohne Grund ist deshalb jetzt vom „VirusAltenheim-Skandal“die Rede, so die Tageszeitung „Corriere della sera“. Ein Skandal, dessen ganzes Ausmaß noch unklar ist.