Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Ein ganz normales Leben zwischen Krieg und Frieden
Wie die politischen Probleme im Irak in Ankawa, dem christlichen Stadtviertel von Erbil, wahrgenommen werden
ANKAWA - Die Gegensätze sind krass. Nur eineinhalb Autostunden von Erbil entfernt warten Zehntausende Jesiden in Lagern auf eine bessere Zukunft – die es sobald nicht geben wird. Und in Ankawa, dem großen christlichen Viertel der kurdischen Hauptstadt Erbil, scheinen Krieg, Konflikte, Leid und Elend ganz weit weg zu sein. Die Kirchen sind geöffnet – und nicht übermäßig bewacht. In den Läden am Straßenrand werden offensichtlich gute Geschäfte gemacht, abends fließen in Restaurants und Hotelbars Bier und Rotwein. Aufwendig zurechtgemachte junge Frauen lassen sich von ihren Verehrern ausführen. An anderen Tischen sitzen Männer aller Altersklassen an überladenen Tischen und besprechen dabei vermutlich lukrative Geschäfte. Hier lässt es sich wohl und sicher sein, so viel steht fest.
Doch sind die Konflikte, die den Irak seit Jahren beherrschen, wirklich so weit weg, wie es den Anschein hat? Immerhin: Die Millionenstadt Mossul, deren Westteil vom sogenannten „Islamischen Staat“in Schutt und Asche gelegt wurde, ist gerade einmal eineinhalb Autostunden von hier entfernt. Rund 120 000 Christen flohen aus dieser Region – auch nach Ankawa. Ebenso die Christen aus der nahe gelegenen Ninive-Ebene, als dort der IS wütete. Die Christen sind im Irak zu einer bedrohten Minderheit geworden. Aber das war auch schon in den Jahren vor der IS-Gewaltherrschaft der Fall. Hunderttausende irakische Christen haben in den Jahren nach 2003 ihre Heimat verlassen, weil sie sich ihres Lebens nicht mehr sicher fühlten.
Inzwischen ist der IS zurückgedrängt, und die Zeiten, in denen der Kriegslärm von der Front auch in Ankawa beim Abendessen gut hörbar war, sind vorbei. Die Flüchtlinge, die damals mit nichts als ihrem Leben in das Stadtviertel kamen, zogen entweder ins Ausland, wurden sesshaft – oder gingen in ihre Heimat zurück. Doch noch immer sind die Themen Flucht und Vertreibung allgegenwärtig. Das Vertrauen in die Politik ist gering, die wirtschaftliche Lage – vor allem wegen der hohen Arbeitslosigkeit, schlecht. Wir wollten wissen, wie es sich als Christ, Muslim oder Jeside in Ankawa lebt? Hier die Antworten von sechs Bewohnern des Viertels.
Hoshair, 50 Jahre alt, Besitzer des Dönerladens „Pronto“, chaldäischer Christ
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„Alle Mitarbeiter meines Ladens sind Flüchtlinge, beispielsweise aus der Ninive-Ebene, aus Bashika, aus dem Shingal-Gebirge, aus Syrien. Bei mir arbeiten Christen, Jesiden, Sunniten gut zusammen, da gibt es überhaupt keine Probleme. Als Chef meines Geschäftes will ich einen Beitrag leisten, dass Flüchtlinge eine Beschäftigung finden. Für mich sind alle Menschen gleich viel wert, egal welcher Religion sie angehören. Nur zur irakischen Regierung habe ich kein großes Vertrauen, man muss immer mit allem rechnen. Auch in Kurdistan gibt es große Probleme, wir haben einfach zu wenige Arbeitsplätze, deshalb sind so viele Leute arbeitslos.“
Sherzad Josof Daniel, seit 25 Jahren Inhaber eines Ladens mit Devotionalien, chaldäischer Christ
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„Mein Hauptladen war in Karakosch, doch der IS hat alles vernichtet, beschlagnahmt und ausgeraubt. Deshalb habe ich diese Filiale hier zu meinem Hauptladen gemacht, weil ich kein Vertrauen habe, dass es in Karakosch eine Zukunft für Christen gibt. Hier in Ankawa ist die Situation viel besser als in der Ninive-Ebene. Es würden noch viel mehr Christen den Irak verlassen, wenn es einfacher wäre. Wenn einer ins Ausland geht, zieht er andere nach. Das ist wie eine Sogwirkung, die dadurch entsteht. Aber in meinem direkten Umfeld leben alle Religionen wie Brüder zusammen, Benachteiligungen aufgrund meiner Religion kenne ich nicht. Und in meinem Freundeskreis sind mehr Muslime als Christen. Problematisch ist allerdings die wirtschaftliche Lage in Kurdistan, auch für mich. Weil immer mehr Christen weggehen, habe ich weniger Kunden. Ich wollte deshalb auch schon meine Heimat verlassen, das hat aber nicht geklappt.“
Haider, 27, und Abdulrazak, 27, seit vier Jahren Besitzer eines Lampenund Haushaltsgerätegeschäfts, Muslime
● Haider: „Wir kommen aus Bagdad, haben aber die irakische Hauptstadt wegen der schlechten Sicherheitslage verlassen. In Ankawa ist die Situation ganz anders. Selbst als der IS in der Nähe war, war die Sicherheitslage hier stabil. Das Zusammenleben mit Christen und Jesiden hier im Viertel funktioniert ohne Probleme. Auch als sehr viele Flüchtlinge hier im Viertel waren, gab es keine Probleme. Wir sind beide muslimische Araber, haben aber auch mit muslimischen Kurden und Christen Kontakt. Uns stört es sehr, dass es im Irak eine so große Rolle spielt, ob man Sunnit, Schiit, Christ oder Jeside ist. Wir unterhalten uns nie über Religion, in unserem zehnköpfigen Freundeskreis sind alle Religionen vertreten. Deshalb wünsche ich mir eine säkularere Gesellschaft. Die Religion soll von der Politik getrennt werden.“
Abdulrazak: „Problemtisch ist aber die wirtschaftliche Situation in Kurdistan. Viele Firmen haben die Region wegen des IS verlassen. Auch die ausländischen Auftraggeber sind weg. Deshalb hat die Bevölkerung wenig Arbeit und auch kein Geld. Darunter leidet natürlich auch unser Laden. Ich wollte deshalb schon weggehen – nach Deutschland oder Australien.“
Haider: „Ich nicht. Ich wünsche mir von der neuen Regierung im Irak, dass sie für mehr Arbeitsplätze sorgt, damit die Leute mehr Geld verdienen können. Auch die Sicherheitslage sollte sich weiter verbessern. Das gilt nicht nur für Erbil, sondern für den gesamten Irak. Und ich möchte, dass der Irak als Staatsgebiet erhalten bleibt. Es muss doch möglich sein, die ethnischen Spannungen und Gegensätze zwischen den Gruppen zu überwinden.“
Adiba, arbeitet seit zehn Jahren im Kosmetikladen ihres Bruders, Christin (wollte nicht fotografiert werden)
● „Ich stamme aus Kirkuk, fühle mich aber hier in Ankawa als Christin wohl und sicher. Selbst als der IS hier in der Nähe war, haben wir hier keine Verschlechterung der Sicherheitslage festgestellt. Man kann hier gut miteinander leben. Aber die politischen Ereignisse der vergangenen Jahre haben mich schon sehr aufgewühlt. Mir persönlich ist ja nichts passiert, aber ich habe mir sehr viele Gedanken gemacht über diejenigen, die alles verloren haben – ihr Leben, ihre Familien, ihre Dörfer, ihre Heimat. Ich habe es hautnah erlebt, wie die Flüchtlinge nach Ankawa kamen. Meine Familien und ich haben versucht, sie zu unterstützen, wir haben uns verpflichtet gefühlt, ihnen zu helfen. Die Menschen sind ja nicht freiwillig nach Ankawa gekommen, sondern die Lage im Irak hat sie dazu gezwungen. Im Irak haben wir so viele Probleme, wir müssen uns gegenseitig unterstützen. Die gesamte Region hat unter dem Krieg gelitten. Er hat das Land wirtschaftlich geschwächt, die Menschen haben keine Gehälter bekommen. Jetzt hoffe ich, dass es wieder aufwärts geht. Für die Zukunft wünsche ich mir Sicherheit und ein friedliches Zusammenleben. Das ist mir sehr wichtig.“
Mariam, 27 Jahre alt, Teamleiterin in einer Apotheke, Christin
„Ich bin in Kirkuk geboren, wir kamen vor zehn Jahren nach Ankawa, weil mein Vater, ein Ölingenieur, in Kirkuk bedroht wurde. In den vergangenen Jahren war die Situation hier nicht so einfach, weil wir auf einmal sehr viele Flüchtlinge aufnehmen mussten. Die Mieten stiegen, und die Stadt war plötzlich sehr unruhig. Aber natürlich haben wir den Flüchtlingen geholfen, wir haben Geld gesammelt, um Medikamente zu kaufen. Inzwischen hat sich die Lage wieder beruhigt. Ein Problem mit der Sicherheit hatten wir ohnehin nie in Ankawa. Ich gehe oft um Mitternacht oder noch später alleine nach Hause, da gab es noch nie Schwierigkeiten. Auch das Zusammenleben mit anderen Religionen funktioniert hier reibungslos, in meinem Freundeskreis sind alle Religionen und Ethnien vertreten. Das wünsche ich mir auch für den Irak. Wir brauchen einen säkularen Staat, in dem die Religion keine Rolle spielen darf. Alles andere wäre zu unserem Nachteil. Meine Zukunft sehe ich trotz all der Schwierigkeiten hier in Kurdistan. Ich werde zwar für kurze Zeit ins Ausland gehen, um dort meinen Master zu machen, aber anschließend will ich für immer hier leben. Deutschland und Australien sind für mich keine Optionen. Mein Herz ist im Irak.“