Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Gut aufgelegt: Ist die Schallplatte wieder erste Wahl?
Akustische Entschleunigung: Wenn sich die Nadel auf die tiefschwarze Vinylscheibe senkt und warme Gitarrenklänge aus den Rillen kratzt, hören meine Ohren anders zu. Keine Fernbedienung, um zum nächsten Titel zu springen. Auf die LP lasse ich mich ein. Ungeteilte Aufmerksamkeit für Musik, die es verdient, nicht bloß Hintergrundrauschen zu sein. Während sich der analoge Sound um mich legt wie ein plüschiger Wohnmantel, studiere ich die Texte im Booklet, das so viel größer ist das als das Heftchen in einer CD-Hülle. Mein Blick wandert über die großformatige Plattenhülle. Die Covergestaltung offenbart Details, die mir bei der CD nie aufgefallen sind. (Zum Nachempfinden: Es geht konkret um die Platte „IX“der Alternative-Rockband ... And You Will Know Us By The Trail Of Dead. Googeln Sie das LPCover, und Sie wissen, was ich meine.) Das heißt nicht, dass ich nur LPs besitze. Die Zahl der CDs in meinem Plattenschrank ist – als Kind der 80er- und 90er-Jahre – weitaus größer. Und dass einer LP meist ein Code beiliegt, mit dem man die Songs herunterladen kann, ist mir auch wichtig. Für unterwegs taugt so ein Plattenspieler ja nur bedingt. Ein digitaler Stream dient mir hingegen lediglich als Einstiegspunkt – taugt das Album, muss es auch physisch in meinem Besitz sein. n dem Spielfilm „Nach fünf im Urwald“gibt es eine herrliche Szene: Die Eltern sind aus dem Haus, was Töchterchen (Franka Potente) ausnutzt für eine Party. Die in einem Partykeller Marke 1970er-Jahre ruhig beginnt und sich langsam ins ganze Haus verlagert. Als die Eltern zurückkehren, finden sie eine zerstörte Wohnung vor. Was Papa (Axel Milberg) aber am meisten schockt: Seine stets wie ein rohes Ei behandelte Lieblingsjazzplatte ist im Partyrausch zerbrochen.
Will sagen: Die wie ein Goldbarren gehortete Schallplatte war früher eher ein Spießerding. Für die Coolkids war Vinyl in erster Linie ein Gebrauchsgegenstand. Einer, der sich weniger durch warmen Klang auszeichnete als durch zunehmendes Rauschen, Kratzen und schlimmstenfalls auch Springen der Nadel. War manchen schon früher das Tonband eine willkommene Alternative zur schwarzen Scheibe, bedeuteten erst CD und dann mp3 einen Segen. Weil bedienund klangfreundlich, weil von der Auswahl unendlich viel größer (so viel Schallplatten können Sie gar nicht tragen, wie sie Musik im Netz finden). Wer sich heute moderner Technik verweigert, sollte sich daher auch einen Nierentisch zulegen, alte Schellackplatten hören und ein T-Shirt tragen, auf dem steht: „Früher war alles besser“. Nee, war es eben nicht.
’’ Ungeteilte Aufmerksamkeit für die Musik. Von Daniel Drescher Nee, früher war nicht alles besser. Von Dirk Grupe