Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Leselust und Leseschwäche
Letzte Woche fiel hier das Wort Blütenlese. Weil es so hübsch ist, aber auch immer seltener verwendet wird, wollen wir uns kurz mit ihm beschäftigen. Unter Blütenlese verstehen wir eine die Leselust fördernde Sammlung von inhaltlich sowie stilistisch hochwertigen Texten, ob Prosa oder Lyrik. Man könnte hierfür auch Anthologie oder Florilegium sagen, denn Blütenlese ist die exakte Übersetzung dieser beiden Fremdwörter aus dem Griechischen und Lateinischen: Sammlung von Blumen. Und eine Lanze für diesen Begriff zu brechen, scheint angebracht. Schaut man sich im „Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache“seine Wortverlaufskurve an, also die Aufzeichnung seiner Häufigkeit im Sprachgebrauch, so nähert sich diese Kurve bedrohlich der Null. Damit teilt Blütenlese das Schicksal vieler gehobener Begriffe, die – so prägnant sie auch sein mögen – leider nicht Rolf
mehr in die Zeit zu passen scheinen. Waldvogel
Aber bleiben wir einmal beim Grundwort Unsere Sprache Lese – abgeleitet vom Verb lesen ist immer im Sinn von einsammeln. „O stört sie im Fluss. nicht, die Feier der Natur, dies ist die Lese, Wörter kommen, die sie selber hält“, heißt es bei Hebbel Wörter in seinem vielzitierten Gedicht gehen, Bedeutungen
„Herbstbild“über die Zeit, wenn die
Früchte von den Bäumen fallen. Mit und Schreibweisen verändern Lese meinte er Mitte des 19. Jahrhunderts sich. Jeden Freitag greifen wir Auswahl und Ernte zugleich. So hier solche Fragen auf.
würden wir das Wort allerdings kaum mehr gebrauchen. Feste Verbindungen mit Lese sind jedoch weiterhin üblich. Die Weinlese
habe dieses Jahr früher begonnen, so hieß es noch vor ein paar Wochen, weil der Sommer so außerordentlich warm gewesen war – oder „sehr groß“,
um Rilkes nicht minder berühmtes
Herbstgedicht zu zitieren. Wir reden von der Spätlese, wenn der Winzer die Trauben länger am Stock hängen lässt, bis – noch einmal Rilke – vom lieben Herrgott die „letzte Süße hineingejagt“wurde. Und beim Wort Trockenbeerenauslese schnalzt man im Gedanken an einen erlesenen Tropfen schon vorab mit der Zunge.
Nun hat das Verb lesen aber noch eine weitere, wesentlich wichtigere Bedeutung. Wenn wir lesen, erfassen wir Schriftzeichen und verinnerlichen ihren Sinn oder geben diesen mündlich wieder. Wortgeschichtlich gesehen, ist man dabei aber wieder bei der ersten Bedeutung angelangt: lesen als auflesen – und zwar von Geschriebenem. Wie dieses? Da kommen die alten Germanen ins Spiel: Bei ihnen war es üblich, mit Runen beschriftete Stäbchen aus Buchenholz – daher der Begriff Buchstabe – auszuwerfen und dann zu deuten. Der Ursprung des Wortes lesen lag also wahrscheinlich im Aufsammeln dieser Stäbchen und der Wiedergabe des aus ihnen herauszulesenden Willens der Götter.
Nun noch zu einer früher nicht üblichen Bedeutung von lesen. Beim Fußball geht es heute oft um das Lesen eines Spiels, also des Erfassens von Spielzügen im Vor- oder Nachhinein durch den Trainer oder die Kicker. So weit, so verständlich. In der letzten Zeit fällt aber vor allem auf, wie oft auch Menschen gelesen werden. „Ich lese ihn als jemanden mit sehr ausgeprägtem Machtbewusstsein“oder „Sie will nicht als Frau mit Migrationshintergrund gelesen werden“– das sind durchaus gängige Sätze, die allerdings recht geschraubt klingen und denen ein Hauch von Imponiergehabe anhaftet. Vielleicht geht es dabei aber auch um eine von politischer Korrektheit diktierte Übervorsichtigkeit vor einem klaren Urteil. „Ich lese diese Person mal als Mann, mal als Frau“, lautete vor Kurzem ein Kommentar in einer Rundfunk-Diskussion über Genderfluide. Unter Leseschwäche darf man dann allerdings nicht leiden.
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