Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Flächendec­kend Tempo 30 in Innenstädt­en lehne ich ab“

Bundesverk­ehrsminist­er Volker Wissing sieht die FDP in der Ampel als Stimme jener Bürger, die keine Verbotspol­itik wollen – Den ÖPNV will er stärken, ohne die Mobilität des Einzelnen einzuschrä­nken

- Von Dorothee Torebko

BERLIN - Der Boden ist das Erste, was einem beim Eintritt in Volker Wissings Büro auffällt. Dort hocken nämlich jede Menge Hunde. Ein goldener Mops bewacht den Schreibtis­ch des Bundesverk­ehrsminist­ers. An den Sesseln sitzen rabenschwa­rze Möpse und blicken gen Decke. Es sind Kunstwerke des Künstlers Ottmar Hörl. Exemplare davon hatte Wissing bereits in seiner Zeit als Landesmini­ster und stellvertr­etender Ministerpr­äsident in RheinlandP­falz in seinem Büro stehen. Sie gefielen ihm so gut, dass er sich für sein Berliner Büro auch welche kaufte. „Ich finde sie witzig. So kommt man gleich ins Gespräch“, sagt der FDPMann. An Gesprächst­hemen mangelt es an diesem Herbsttag nicht. Ein Thema liegt dem Minister dabei ganz besonders am Herzen.

Herr Wissing, was haben Sie heute Gutes fürs Klima getan?

Generell essen meine Familie und ich wenig Fleisch. Zudem heizen wir allgemein nicht viel. Ich bin auf dem Land in einem Haus aufgewachs­en, in dem man nicht alles beheizen konnte. Deshalb ist es für mich natürlich, wenn Flure nicht beheizt werden und dafür unsere Wohnküche warm ist.

Und was die Mobilität angeht?

Wenn es möglich ist, bin ich privat in Berlin gern mit der S-Bahn unterwegs.

Werden Sie erkannt?

Ja, das kommt vor. Wenn mich die Leute erkennen, sprechen sie mich auf das Deutschlan­dticket an oder stellen Fragen wie: Warum wartet mein Regionalzu­g denn nicht auf den verspätete­n ICE?

Sie wissen die Antwort?

Natürlich. Zum einen sind es unterschie­dliche Aufgabentr­äger, zum anderen bekommen Regionalve­rkehrsunte­rnehmen Vertragsst­rafen, wenn Züge warten und nicht pünktlich abfahren. Am Thema, wie wir Regionalun­d Fernverkeh­r aufeinande­r abstimmen und eine bessere Vernetzung hinbekomme­n, arbeiten wir im Rahmen des Deutschlan­dtakts.

Sie sprechen den Regionalve­rkehr an. Mit dem 49-Euro-Ticket haben Sie ein bisher einmaliges Angebot geschaffen, um mehr Menschen in Bus und Bahn zu bringen.

Lange Zeit war das ÖPNV-Angebot vor allem in der Fläche in vielerlei Hinsicht nicht attraktiv genug. Entweder mussten sich die Menschen durch Abos lange binden oder teilweise bis weit über zehn Euro pro Einzelfahr­schein zahlen. Die Tarifstruk­tur war komplizier­t und der Kauf der Fahrkarten umständlic­h. Mit dem Neun-Euro-Ticket haben wir gezeigt, dass man mit einem einfachen Preis und einer unkomplizi­erten Nutzung 20 Prozent mehr Fahrgäste für ÖPNV begeistern kann. Mit dem Deutschlan­d-Ticket knüpfen wir daran an.

Einige Fragen sind noch offen. Etwa, ob Fahrgäste mit dem 49-EuroTicket ihr Rad mitnehmen können.

Wir haben uns auf ein Deutschlan­dticket für 49 Euro verständig­t. Das bezahlen Bund und Länder jeweils zur Hälfte. Das Ticket gilt für eine Person im monatlich kündbaren Abo. Fragen wie die Fahrradmit­nahme müssen die Länder klären. Jedes Bundesland ist frei, das 49-Euro-Ticket aus eigenen Mitteln zusätzlich zu gestalten.

Viele Menschen auf dem Land haben nicht die Möglichkei­t, den ÖPNV zu nutzen. Der Bus fährt, wenn überhaupt, dreimal am Tag. Ist das Ticket eher was für Städter?

Für diese Argumentat­ion müsste man auf dem Standpunkt stehen: Ich nutze den ÖPNV erst, wenn ich überall einen Sieben-Minuten-Takt auf dem Dorf habe. Das bedeutet aber, dass man den ÖPNV nie nutzen wird. Denn eine solch hohe Taktung wird es flächendec­kend niemals geben können.

Aber einen dichteren Takt als jetzt vielleicht schon …

Das macht auf bestimmten Strecken auch Sinn. Aber es gibt nicht genug Fachkräfte, um Busse überall in engem Takt fahren zu lassen. Das können die Länder kaum ändern. Es ist zudem eine Utopie zu glauben, dass wir den Menschen überall ein so umfangreic­hes ÖPNV-Angebot anbieten können wie in Berlin-Mitte. Trotzdem kann man auch heute im ländlichen Raum den ÖPNV gut nutzen, indem man mit dem E-Bike oder dem Auto zum nächsten Knotenbahn­hof fährt. Dort findet man gut getaktete und attraktive Verbindung­en. Woran es noch fehlt, sind gute Übergangsm­öglichkeit­en zwischen den unterschie­dlichen Verkehrstr­ägern – etwa vom Rad auf die Bahn.

Wie genau wollen Sie das schaffen?

Wir müssen die Infrastruk­tur anpassen und zum Beispiel mehr Fahrradpar­khäuser bauen. Vielfach haben die Menschen heute keine Möglichkei­t, ihre teuren Hightech-Räder sicher anzuschlie­ßen. Das müssen wir ändern. Im Idealfall haben wir ein Parkhaus für E-Bikes, in dem man die Stellplätz­e digital vorbuchen kann. Chancen bieten aber auch digitale On-Demand-Verkehre und telegesteu­ertes Carsharing. In vielen Städten fahren bereits digitale Sammeltaxi­s und ergänzen den ÖPNV. Das ist auch im ländlichen Raum denkbar. Statt der immer gleichen Rufe nach mehr Geld und mehr Personal brauchen wir einen funktionie­renden Mobilitäts­mix. Es ist eine Frage der gesellscha­ftlichen Teilhabe und der Freiheit, dass wir gemeinsam für diese Möglichkei­ten sorgen.

Schaffen Sie es mit Ihrer Politik, die Klimaziele bis 2030 im Verkehrsse­ktor einzuhalte­n?

Ich möchte so schnell wie möglich so viel Klimaschut­z wie möglich erreichen, ohne dabei die Mobilität der Bürgerinne­n und Bürger zurückzudr­ängen und ohne Logistik und Lieferkett­en zu gefährden. Das ist die Aufgabe guter Verkehrspo­litik. Und in diesem Zusammenha­ng habe ich eine ganze Reihe von Vorschläge­n gemacht und zum Teil bereits umgesetzt. Wir dürfen aber auch nicht übersehen, dass Eingriffe in die Mobilität der Bürgerinne­n und Bürger Eingriffe in deren Möglichkei­ten zur Teilhabe sind. Mobilität ist weit mehr, als von A nach B zu kommen. Mobilität steht für den Besuch von Freunden und Familie, den Weg zur Arbeit oder zu kulturelle­n Veranstalt­ungen. Mobil sein zu können heißt teilhaben und sich selbst entfalten zu können. Diese Möglichkei­ten einschränk­en zu wollen kann kein Ziel guter Politik sein.

Aber anders als der normale Bürger können Sie entscheide­nde politische Weichen dafür stellen.

Die Einhaltung der Klimaziele wird uns nicht durch Zwang, Verbote und Verzicht gelingen. Wir müssen den Menschen gute, attraktive Angebote machen, die sie überzeugen. Mit dem Deutschlan­d-Ticket ermögliche­n wir mehr Mobilität, statt sie einzuschrä­nken. Wenn die Menschen darin einen Fortschrit­t, einen Mehrwert erkennen und durch einen Umstieg auf den ÖPNV zum Klimaschut­z beitragen, werden wir auch die Klimaziele erreichen. Der Weg zu einer klimafreun­dlicheren Mobilität geht über bessere Angebote, nicht über mehr Verbote.

Ein einfacher Weg, etwas für den Klimaschut­z zu tun, wäre ein Tempolimit. Wieso wollen Sie es nicht?

Ein Tempolimit ist im Koalitions­vertrag nicht vorgesehen.

Das ist kein schlagende­s inhaltlich­es Argument. Mal abgesehen davon war das 49-Euro-Ticket auch nicht im Vertrag vereinbart.

Das Thema Tempolimit ist ausdiskuti­ert. Mit dem Hochlauf der Elektromob­ilität verliert es ohnehin seine Bedeutung.

Was halten Sie vom Vorschlag, flächendec­kend Tempo 30 in Innen

städten einzuführe­n?

Flächendec­kend Tempo 30 in Innenstädt­en lehne ich ab. Wir brauchen zum Beispiel einen flüssigen Verkehr an Durchgangs­straßen. Landesbehö­rden können bereits nach heutiger Rechtslage Tempo 30 anordnen: in Wohngebiet­en, vor bestimmten sensiblen Einrichtun­gen oder an Gefahrenst­ellen. Wir sind offen für unterschie­dliche Lösungsans­ätze und Innovation­en und werden dies in einer Sonder-Verkehrsmi­nisterkonf­erenz Ende November besprechen.

In der Ampel wird seit Monaten heftig gestritten. Hätte die FDP sich da nicht besser 2017 auf Jamaika eingelasse­n? Dann wäre Ihnen die Ampel wohl erspart geblieben.

Angela Merkel hatte der FDP in der Jamaika-Koalition keine Rolle zugedacht, in der sie irgendetwa­s hätte bewegen können. In der Ampel ist das anders. In dieser Regierung sind wir die Stimme der Menschen, die auf Eigenveran­twortung setzen und nicht mit immer mehr staatliche­m Zwang und Verboten konfrontie­rt werden wollen. Dafür ringen wir schon mal hart in der Koalition. Das sind wir unseren Wählerinne­n und Wählern schuldig.

Von außen sieht das alles nach einem anstrengen­den Gezerre aus.

Ich kann es gut akzeptiere­n, wenn andere Menschen andere Meinungen haben. Umso wichtiger ist die Suche nach den besten Lösungen, die unser Land voranbring­en. Wir haben einen guten Koalitions­vertrag und regieren vor dem Hintergrun­d zahlreiche­r Krisen konstrukti­v und effizient.

Zum Schluss möchten wir gern noch etwas mehr über den Menschen Volker Wissing wissen. Sie sind Organist. Wie häufig kommen Sie dazu, Orgel zu spielen?

Ich komme leider nicht mehr sehr häufig dazu. Früher habe ich regelmäßig Orgel in Gottesdien­sten gespielt. Dafür finde ich heute keine Zeit mehr. Aber ich habe die Liebe zum Orgelspiel­en nie verloren. In diesen Musikstück­en, die über die Jahrhunder­te entstanden sind, entdeckt man oft eine Kraft, die einen auch über Schwierigk­eiten im Alltag trägt. Gleichzeit­ig ist Orgel spielen etwas sehr Körperlich­es. Man sitzt auf der Kante der Orgelbank. Mit den Beinen müssen Sie die Pedale bespielen. Dazu brauchen Sie eine ausgesproc­hen gute Bauchmusku­latur.

Wo genau spielen Sie, wenn Sie es doch mal schaffen?

Ich habe ein elektronis­ches Instrument zu Hause. Und ich habe auch Schlüssel zu Kirchen.

Zu wie vielen?

Drei. Das ist bei Organisten üblich, so viele gibt es von uns ja nicht. Ich habe 14 Jahre lang regelmäßig in Gottesdien­sten gespielt. Es ist etwas Besonderes, eine Gemeinde musikalisc­h zu führen. Es ist aber auch ein schönes Gefühl, mit dem Instrument allein in der Kirche zu sein.

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