Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Enttäuschung bei Einzelhandel und Gastronomie
Reaktionen auf Corona-Beschlüsse fallen in der Südwest-Wirtschaft heftig aus – Kritik an Regel-Wirrwarr und Ausrichtung an Inzidenzen
STUTTGART/MÜNCHEN (dpa) - Die Wirtschaft hält die versprochenen Öffnungen von Einzelhändlern und bestimmten anderen Betrieben in Regionen mit niedrigen Corona-Inzidenzen für nicht ausreichend. „Es bleibt bei selektiven Ausnahmen“, monierte etwa Wolfgang Grenke, der Präsident von Baden-Württembergs Industrie- und Handelskammertag. Eberhard Sasse, Chef des Handelskammertags in Bayern, erklärte am Donnerstag: „Da sich die Öffnungen an den ständig schwankenden Inzidenzwerten orientieren, sind viele Unternehmen nach wie vor ratlos und frustriert.“
RAVENSBURG - Wie viele andere Einzelhändler hat auch Anton Reisch am Mittwoch die Nachrichten verfolgt, als die Ministerpräsidenten der Länder mit der Bundeskanzlerin über den Exit aus dem Lockdown berieten. Reisch ist Inhaber des Spielwarenhändlers „Spiel und Freizeit Reisch“in Biberach. Sein Geschäft musste er mitten im Weihnachtsgeschäft schließen. „Es ist einfach nicht gerecht“, sagt Reisch. Nahe gelegene Discounter oder Drogeriemärkte verkauften Spielwaren, während sein Geschäft geschlossen bleibt. Nun hatte er wenigstens auf das Ostergeschäft gehofft. Doch nach den Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz vom Mittwoch herrscht bei dem Händler weiter Unmut.
Die Vereinbarungen sehen zwar vor, dass der Einzelhandel von kommendem Montag an in Regionen mit einem Inzidenzwert von unter 50 wieder öffnen darf. „Aber da fällt Biberach ja schon mal raus“, sagt Reisch. Hier liegt die Sieben-TageInzidenz bei 75,5. Bei Inzidenzwerten zwischen 50 und 100 dürfen Kunden nur nach vorheriger Terminbuchung kommen. „Es ist ein Regel-Wirrwarr“, findet Reisch. Zumal auch noch nicht klar sei, wie genau BadenWürttemberg die Regeln umsetze.
Eine „Katastrophe“seien die Bund-Länder-Beschlüsse, legte sich derweil bereits der Handelsverband Deutschland (HDE) fest. Denn faktisch werde der Lockdown für die große Mehrheit der Nicht-Lebensmittelhändler bis Ende März verlängert, und es drohten weitere zehn Milliarden Euro Umsatzverluste, warnte HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. Die für eine Öffnung der Geschäfte vorgeschriebene stabile Inzidenz von 50 sei „nicht flächendeckend in Sichtweite“, und Konzepte zum Abholen vorher bestellter Ware könnten die Händler „nicht einmal annähernd retten“, beklagte der HDE. Auch Einkaufen mit Termin sei für die allermeisten Geschäfte kein Rettungsanker, denn dabei überstiegen in der Regel die Kosten die Umsätze.
Der Handelsverband in BadenWürttemberg gab sich diplomatischer und begrüßte die Entscheidungen zunächst als „Schritt in die richtige Richtung“, der aber nicht ausreiche. Es sei unverständlich, warum Öffnungen nicht auch von Faktoren wie dem Impffortschritt, der Zahl von Schnelltests oder dem Kapazitätsstand
freier Intensivbetten in Krankenhäusern abhängig gemacht werden. Die Öffnung in Schritten sei zumindest „besser als nichts“, es blieben für den Handel aber viele Unsicherheiten, kommentierte Peter Jany, Handelsexperte beim BadenWürttembergischen Industrie- und Handelskammertag (BWIHK).
Wolfgang Grenke, der Präsident des BWIHK, sagte: „Für viele unserer kurz vor dem Corona-Aus stehenden Betriebe zehren die Ergebnisse weiter an der Substanz. Anstatt dass Unternehmen aus Einzelhandel, Hotellerie und Gastronomie sowie der Veranstaltungsbranche und dem Dienstleistungsgewerbe branchenübergreifend endlich wieder eigenständig wirtschaften können, bleibt es bei selektiven Ausnahmen.“
Ein Hoffnungsschimmer sei zwar, dass Öffnungen schon ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 50 anstatt wie bisher geplanten 35 vorgesehen seien. „Zielführender wäre hier allerdings ein kompletter Strategiewechsel gewesen, der mehrere Faktoren berücksichtigt“, sagte Grenke.
Es sei nicht nachvollziehbar, warum beispielsweise Vorlagen wie der Stufenplan des Robert-Koch-Instituts bei den Verhandlungen am Mittwoch so nachrangig aufgegriffen worden seien. „Dieser zeigt doch klar auf, dass beispielsweise der Einzelhandel
und Hotels ein niedriges Infektionsrisiko aufweisen, Gastronomie und Kulturangebote allenfalls ein moderates“, sagte Grenke.
So sind die Beschlüsse auch für das baden-württembergische Gastgewerbe „inakzeptabel und enttäuschend“, wie es in einer Mitteilung des Branchenverbandes Dehoga Baden-Württemberg heißt. Die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin hatten beschlossen, dass Außengastronomie frühestens vom 22. März an öffnen darf, wenn der Inzidenzwert unter 50 liegt. Liegt er zwischen 50 und 100, ist der Besuch nur mit vorheriger Terminbuchung möglich. „Statt eine konkrete Öffnungsperspektive für Betriebe und Beschäftigte in Gastronomie und Hotellerie aufzuzeigen, haben die Regierungschefs das Thema nur vertagt. Mit der Vorgabe einer möglichen Außengastronomie-Öffnung ,frühestens am 22. März’ können Betriebe unmöglich planen“, heißt es in der Mitteilung vom Dehoga Baden-Württemberg.
Zudem ist unklar, wie die badenwürttembergische Landesregierung die vereinbarten Beschlüsse im Detail umsetzen will. „Unsere Bedenken im Hinblick auf die praktische Umsetzbarkeit, beispielsweise der möglichen Pflicht zur vorherigen Terminbuchung in der Außengastronomie, werden wir im Dialog mit der Landesregierung ansprechen und hoffen auf Lösungen, die in der Praxis auch funktionieren können“, mahnte der Dehoga.
Die Veranstaltungsbranche hingegen steht nach den Beschlüssen vom Mittwoch weiter vor dem Nichts. Über Öffnungsschritte für die Veranstaltungsbranche will die Ministerpräsidentenkonferenz erst Ende März beraten. „Während es bereits ab nächsten Montag weitere Lockerungen für unter anderem den Handel geben soll, fehlt weiterhin jegliche Öffnungsperspektive für die Kulturund Veranstaltungsindustrie“, kritisierte der Deutsche Eventverband am Donnerstag. Viele Unternehmer stünden „vor dem Trümmerhaufen ihrer Existenz, unzählige Arbeitsplätze gehen verloren“.
Der Präsident des Baden-Württembergischen Handwerkstags, Rainer Reichhold, kritisierte am Donnerstag „die nach wie vor nur sehr schleppend laufenden Wirtschaftshilfen“. Zwar seien die Abschlagszahlungen der Überbrückungshilfe III erhöht worden. Allein: „Entscheidend ist das Auszahlungstempo – und das muss schneller werden.“