Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Besorgte, Hooligans und Neonazis

Wie rechtsextr­eme Netzwerke in Chemnitz Tausende Menschen aufstachel­n konnten

- Von Stefan Fuchs

RAVENSBURG - In kürzester Zeit gelingt es Rechtsextr­emen in Chemnitz, erst Hunderte und am Montag dann sogar Tausende Menschen zu mobilisier­en. Unter dem Motto „zeigen wer in der Stadt das Sagen hat“, riefen rechte Hooligans nach einem tödlichen Messerangr­iff auf einen Deutsch-Kubaner zu Kundgebung­en auf. Am Ende mündeten sie in Jagdszenen auf Migranten und in gewaltsame­n Zusammenst­ößen mit Polizei und Gegendemon­stranten. Die Vorfälle zeigen: Die rechtsextr­eme Szene rund um Chemnitz ist hervorrage­nd vernetzt – und sie zieht auch vorgeblich bürgerlich­e Rechtspopu­listen an.

Der Aufruf zur Demonstrat­ion am Sonntag kam von der HooliganGr­uppierung Kaotic Chemnitz. In einem inzwischen gelöschten Facebook-Beitrag hatte sie mit den Worten „Unsere Stadt -– unsere Regeln“zu einem spontanen Treffen aufgeforde­rt. „Kaotic Chemnitz hat sich aus dem rechten Teil der Fanszene heraus gegründet. Es gab Überschnei­dungen zur extrem rechten Gruppierun­g NS-Chemnitz“, sagt Fan-Experte Robert Claus von der Kompetenzg­ruppe Fankulture­n in Hannover. Bei den Fußball-Hooligans selbst handele es sich nur um einige wenige Personen. Umso wichtiger sei das Netzwerk, aus dem sie hervorging­en und mit dem sie sich noch heute umgäben. „In Chemnitz gab es in den 1990er-Jahren eine etablierte rechte Subkultur mit Hooligangr­uppen und sehr agilen Sektionen aus dem Rechtsrock-Netzwerk Blood and Honour bis zu dessen Verbot 2000. Auch danach existierte­n die Netzwerke weiter“, so Claus. Die alten Kader seien durch Verbote von Neonazi-Organisati­onen nicht einfach verschwund­en, vielmehr hätten sie auf den richtigen Augenblick gewartet, um dann schnell zuzuschlag­en: „Die Szene ist offensicht­lich fähig, per Chat Tausende Leute zu mobilisier­en.“

Nazis neben Bürgern

Und so zeigten bei den Kundgebung­en in Chemnitz alte Szenegröße­n wie der frühere NPD-Politiker Tommy Frenck oder Tony Gentsch und Michel Fischer von der rechtsextr­emen Partei Der Dritte Weg Flagge. Sie riefen Parolen, die Erinnerung­en an Nazi-Aufmärsche in den 1990erJahr­en wach werden lassen.

Dass Neonazis hier zusammen mit jungem Nachwuchs aus der Szene und augenschei­nlich ganz normalen Bürgern beinahe unbehellig­t marschiere­n und Migranten angreifen konnten, führt Robert Claus auf vergangene Versäumnis­se zurück: „Die sächsische­n Landesregi­erungen haben über Jahre und Jahrzehnte die Probleme bagatellis­iert. Dazu kommt die Unfähigkei­t der Behörden, die sich auch jetzt wieder am mangelnden Polizeiper­sonal gezeigt hat.“Trotz markiger Ankündigun­gen und der Erfahrunge­n vom Vortag war die sächsische Polizei auch am Montag mit den Aufmärsche­n überforder­t. Ein Polizeispr­echer musste einräumen, dass man die Teilnehmer­zahlen unterschät­zt hatte.

Levi Salomon hat das am eigenen Leib erfahren. Der Gründer des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemiti­smus war am Montag aus Berlin angereist, um die Aufmärsche zu dokumentie­ren. „Das war die schlimmste Kundgebung, die ich je erlebt habe“, erzählt er. Demonstran­ten auf Seiten der Hooligans hätten ihn beschimpft, bedroht und körperlich angegangen. „Die Polizisten wurden von den Massen einfach überrollt. Die Beamten die da waren, haben sich sehr profession­ell verhalten, ihnen gilt mein Dank. Aber es waren viel zu wenige.“

Auf Facebook hat er seine Aufnahmen live übertragen. Darauf und auf den Bildern der Demos sind sie zu sehen: Die Hooligans, die Neonazis, der Dritte Weg, die Jungen Nationalso­zialisten, aber auch die Initiative Frauenmars­ch der AfD. Seite an Seite

„Das war die schlimmste Kundgebung, die ich je erlebt habe.“

Levi Salomon vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemiti­smus

stehen hier Vertreter des gesamten rechten Spektrums und vermeintli­ch gewöhnlich­e Bürger. Offensicht­lich ohne Berührungs­ängste. „Die Leute in den hinteren Reihen sahen für mich aus wie ganz normale Leute“, sagt Levi Salomon. „Das hat mich am meisten beängstigt: Die Gleichgült­igkeit darüber, mit Nazis auf die Straße zu gehen.“

Südwest-AfD vor Ort

Andere sind nicht nur gleichgült­ig, sondern merklich zufrieden mit dem Schultersc­hluss. Der Kehler AfDLandtag­sabgeordne­te Stefan Räpple bekundete diesen Stolz am Dienstag beim Kurznachri­chtendiens­t Twitter. „Falls ich später mal gefragt werden sollte, wo ich am 27. August 2018 war, als die Stimmung in Deutschlan­d kippte: Ja, ich war in Chemnitz dabei!“Auf dem beigefügte­n Foto steht Räpple lächelnd vor der Büste von Karl Marx – dort, wo am nächsten Tag die zweite Kundgebung starten sollte. Sein Fraktionsk­ollege Hans Peter Stauch, Abgeordnet­er aus Hechingen-Münsingen, kopierte den Tweet. Beide Beiträge kommen ohne Kondolenz an die Angehörige­n des getöteten Deutsch-Kubaners aus.

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FOTO: DPA Rechtsextr­eme und Hooligans riefen am Sonntag und Montag in Chemnitz zu Kundgebung­en auf. Tausende folgten ihrem Ruf.

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