Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Plötzlich in der Tradition Lew Jaschins
Torhüter Igor Akinfejew soll Russland mit seinen Paraden zum Halbfinaleinzug verhelfen
MOSKAU (SID) - Es ist noch gar nicht so lange her, da war der Gott der Sbornaja ein ausgemachter Trottel. Ein Torwart mit Flutschfingern, „lächerlich“in den Schlagzeilen der russischen Medien. Igor Akinfejew, das deutete sich vor vier Jahren in Brasilien an, hielt nicht das, was sein Talent versprochen hatte, weil er nicht hielt, was er halten musste.
Heute ist sein Anfängerfehler von Cuiaba gegen Südkorea und das schmachvolle WM-Aus in einer der leichtesten Gruppen 2014 längst verziehen, in Moskau singen die Menschen auf den Straßen: „Hey, hey, Igor Igor Akinfejew!“Spätestens seit dem Elfmeter-Krimi im Achtelfinale gegen Spanien ist er wieder ein Volksheld und steht plötzlich in der Tradition der großen Torhüter seiner Heimat.
„Akinfejew ist ein Gott“, sagt nicht nur sein Jugendtrainer Pawel Kowal, als übermenschlich bezeichnete ihn auch die Zeitung „Komsomolskaja Prawda“nach den Großtaten gegen Koke und Iago Aspas. Für Kowal ist sein früherer Schützling längst eine Legende. „Ich habe drei große Torhüter gesehen. Es gab die Ära von Lew Jaschin, die Ära von Rinat Dassajew und jetzt die Ära von Akinfejew.“
Russland ist keine Nation mit tiefverwurzelter Fußballkultur, weil auch die Sowjetunion keine war. Weltruhm erlangten nur Lew Jaschin, Europameister von 1960, und Dassajew, EM-Zweiter von 1988. Beide waren Erscheinungen im Strafraum und wurden mit Preisen überhäuft; Jaschin ausgezeichnet zum Welttorhüter des 20. Jahrhunderts, Dassajew gewählt zum Welttorhüter vor 30 Jahren.
Akinfejew war auserkoren, in ihre Fußstapfen zu treten. Wie Jaschin (Dynamo) und Dassajew (Spartak) spielt er in der Hauptstadt beim Vorzeigeclub ZSKA Moskau. Mit 16 debütierte er in der russischen Liga und hielt gleich in seinem ersten Spiel einen Elfmeter. Im WM-Viertelfinale am Samstag in Sotschi (20 Uhr MESZ/ARD) bestreitet er gegen Kroatien sein 111. Länderspiel, seine berühmten Vorgänger hat er in dieser Statistik längst hinter sich gelassen.
Und dennoch hat Akinfejew die hohen Erwartungen nie erfüllt, nicht nur wegen des Aussetzers in Brasilien. Immer wieder wurde er mit Schwergewichten des europäischen Fußballs in Verbindung gebracht, mal sollte er zu Bayern München gehen, mal zu Manchester United. Doch Akinfejew blieb in Moskau, mit ZSKA kassierte er in 43 Europapokalspielen nacheinander mindestens ein Tor. Eine Bestmarke, auf die er gerne verzichtet hätte.
Mit hohen Erwartungen kennt sich auch Stanislaw Tschertschessow aus, nicht nur als Trainer der Sbornaja. Er war einst auch Torwart, unter anderem bei Spartak Moskau, Lokomotive Moskau und in der Bundesliga bei Dynamo Dresden. Er vertraut seinem Kapitän und nahm ihm auch den Fehler beim 0:3 im letzten Gruppenspiel gegen Uruguay nicht krumm, als Akinfejew einen Freistoß von Luis Suarez in die Torwartecke rauschen ließ.