Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Kunst für alle
Eine Ausstellung in Nancy zeigt die Bedeutung des Jugendstils, der hier erfunden wurde
NANCY (KNA) - Nancy in Lothringen ist eine der Metropolen des europäischen Jugendstils. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde es zur Bühne eines künstlerischen und industriellen Abenteuers, das derzeit mit einer Ausstellung im Musée des Beaux-Arts gewürdigt wird.
Lange Zeit hatte Nancy als konservatives Regionalstädtchen vor sich hingedämmert. Doch mit dem Verlust des größten Teils von Lothringen – samt der Hauptstadt Metz – an das Deutsche Reich wurde Nancy nach dem Krieg von 1870/71 zur Grenzstadt, zum Rückzugsgebiet französischer Industrieller und Intellektueller. Der Zuzug brachte eine
Bevölkerungs- und Kapitalexplosion. Was aber fehlte, waren architektonische Visionen. Junge Künstler wurden beauftragt moderne Viertel, Warenhäuser und öffentliche Gebäude zu schaffen.
Die neuen Köpfe verließen das bekannte Terrain der historischen Formensprache und gaben sich dann lieber kurzlebigen Trends hin. „Immer erneuern, niemals nachahmen“, lautete der Leitspruch des Vordenkers der Bewegung von Nancy, Emile Galle (1846-1904). Ihr Aufstand war damals auch ein regelrechter Befreiungsschlag gegen die erstarrte Plüschwelt des 19. Jahrhunderts. Die Protagonisten des Jugendstils in Nancy waren untereinander befreundet; Außenseiter, die – wie die Impressionisten – gemeinsam gegen die „alte Kunst“antraten.
Der Dekorationswut der intellektuellen Jugendstil-Avantgarde lag zugleich ein handfester sozialer Anspruch zugrunde. Angetreten, durch handwerkliche Serienproduktion eine „Kunst für alle“, eine „soziale Kunst“zu schaffen, sahen einige ihre Tätigkeit gar als Instrument zur Bildung einer klassenlosen Gesellschaft.
1901 schlossen sich die JugendstilKünstler der Region zur „Provinzvereinigung der Kunstgewerbeindustrie“zusammen, der sogenannten Schule von Nancy. Ihre vier Gründer Emile Galle, Antonin Daum, Louis Majorelle und Eugene Vallin wollten ein Zusammengehen von Kunst und Industrie: seriell produzierte, allumfassende, „totale“Kunst.
Restlos alle Teile eines Hauses, von den Fenstern bis zu den Türgriffen, vom Briefkasten zu den Möbeln und Kaminen, sollten zu einem Gesamtkunstwerk verschmelzen, alle Alltagsgegenstände zu Kunst werden.
Der spielerische, überbordende Jugendstil war aber auch ideal für kommerzielle Zwecke zu nutzen. So entstanden in ganz Europa „verführerische“Warenhäuser wie die „Galeries Lafayette“in Paris oder die „Magasins Reunis“in Nancy. Zudem war durch Bevölkerungswachstum, Industrialisierung und gestiegene Mobilität gerade um die Jahrhundertwende ein sprunghafter Anstieg öffentlicher Bauten zu verzeichnen: Rathäuser, Theater, Schulen, Banken und Bahnhöfe. Auch hier zeigte sich vielfach die eigentümliche innere Gemengelage vieler Jugendstilisten zwischen Bürgertum und Sozialismus.
In ihrem sozialen Engagement bezogen manche Künstler auch deutlich politisch Stellung – was ihnen im konservativen Nancy, der Stadt der Anwälte und Notare, durchaus Ärger einbringen konnte. Galle etwa, begnadeter Glasmaler und Kunstschreiner, schuf 1899 eine Vase mit dem Titel „Die schwarzen Männer“. Mit diesem Zitat des revolutionären Dichters Beranger ergriff Galle damals offen Partei für den französisch-jüdischen Hauptmann Dreyfus, dessen Prozess wegen angeblicher Spionage die ganze Nation spaltete. Dieses „linke“Engagement kostete Galle nicht wenige potenzielle Kunden.
Immer mehr Gegner
Dem Jugendstil war nur ein kurzes, aufregendes Leben beschieden. Mehr und mehr erhielten die Prediger einer neuen Nüchternheit den Zuschlag der modernen Massengesellschaft. So urteilte Adolf Loos schon 1908 vernichtend: „Ornament ist vergeudete Arbeitskraft. Der Mensch mit den modernen Nerven braucht das Ornament nicht, er verabscheut es.“
Dem kurzen Schwung des jungen Stils folgte dann der endlose, ermüdende Siegeszug der geraden Linie, der bis heute anhält. Die Ambivalenz von Sozialreform und der Verhaftung des Jugendstils in der bürgerlichen Avantgarde aber ist auch nach über einem Jahrhundert noch in den Werken der „Schule von Nancy“greifbar.
„Ornament ist vergeudete Arbeitskraft. Der moderne Mensch braucht das Ornament nicht.“Adolf Loos, der bereits 1908 gegen den Jugendstil predigte