Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Nationale Tragödie in geschundenem Land
Erdrutsch mit Hunderten Toten trifft das westafrikanische Sierra Leone hart
FREETOWN/JOHANNESBURG (dpa) - Die Wetterkatastrophe trifft das Land hart: In einem der Armenhäuser Westafrikas hat ein Erdrutsch eine Katastrophe ausgelöst. Dabei blickte Sierra Leone nach Bürgerkrieg und Ebola eigentlich wieder nach vorne.
Die Ambulanzfahrer von Freetowns Connaught-Hospital sind im Dauereinsatz. Seit der ersten Nachricht über den gewaltigen Erdrutsch an einem der Hügel im Regent-Distrikt bringen sie immer mehr Leichen und Verletzte ins größte Krankenhaus des westafrikanischen Landes. Die schlammverschmierten und oft verstümmelten Toten füllen die Leichenschauhäuser. Dort sind die Kapazitäten längst überstiegen. Schon werden Massenbestattungen erwogen. Wie viele Tote sind es? Das wird Sierra Leones Rotkreuz-Sprecher ein ums andere Mal gefragt über das völlig überlastete Telefonnetz des westafrikanischen Landes.
In dem totalen Chaos aus rauschenden Wassermassen und verschütteten Häusern fällt die Antwort schwer. Immer wieder werden Leichenteile angeschwemmt, unter den Todesopfern sollen viele Kinder sein. Sind es gar 500 Tote, wie bereits im Gesundheitsministerium gemunkelt wird? Fest steht nur, dass die Zahl weiter ansteigt wie das Wasser auf den Straßen der Hauptstadt.
Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) spricht deshalb auch nur vage von weiter steigenden Opferzahlen und geschätzt rund 3000 Obdachlosen. In einer landesweit verbreiteten Rede spricht Präsident Ernest Koroma am Montag von einer nationalen Tragödie sowie erneuter, großer Trauer, die die Nation im Griff habe. „Viele unserer Mitbürger haben ihr Leben verloren, viele andere wurden schwer verletzt und Eigentum im Millionenwert wurde durch die Erdrutsche und Überschwemmungen zerstört, die einige Teile unserer Stadt erfasst hat.“
Dringend wird die Bevölkerung dazu aufgerufen, die nach wie vor gefährdeten Gebiete zu meiden. Ein Nothilfe-Zentrum nahe dem Erdrutsch-Gebiet wurde eingerichtet, dort soll die Hilfe koordiniert werden. Die üppig bewachsenen Hügel an der Küste gaben dem Land mit seinen knapp sieben Millionen Einwohnern einst den Namen – Sierra Leone ist Spanisch für „Löwenberge“.
An einer der Hangflanken wird in langen Schlangen von Angehörigen, freiwilligen Helfern und Soldaten in einem dramatischen Wettlauf gegen die Zeit nach Vermissten gesucht. Mit Schaufeln, mit bloßen Händen oder auch Baggern werden Steinbrocken weggeräumt und Löcher gegraben. Viele Bewohner der verschütteten Häuser wurden im Schlaf überrascht. Zu den Toten gehört auch ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation Save the Children mit seinen beiden Kindern – sie wurden in ihrem Haus von der Schlamm- und Gerölllawine verschüttet.
Jahrelanges Chaos
In den sozialen Medien kursieren Videos, auf denen Opfer in reißenden Wassermassen auf Gebäuden oder Autodächern hockend auf Rettung warten. Es sind verzweifelte Bilder aus einem geschundenen Land im Westen Afrikas, das während der Ebolaseuche und einem jahrelangen, brutalen Bürgerkrieg immer wieder international Schlagzeilen machte. Noch heute tragen viele Bein- oder armamputierte Menschen dort die Narben dieses blutigen Schlachtens, bei dem sinnlos verstümmelt, vergewaltigt und gemordet wurde und Zehntausende Kinder als Soldaten zwangsrekrutiert wurden.
Hollywood fand hier Inspiration, als es den einst für die Kriegführung in Sierra-Leone wichtigen und heute international geächteten Handel mit Blut-Diamanten in dem Film „Blood Diamond“thematisierte.
Obwohl immer wieder spektakuläre Diamantenfunde in dem Land für Schlagzeilen sorgen, brachten die Glitzersteine Sierra Leone kein Glück. Es ist ein armes Land, das nach jahrelangem Chaos eine hohe Analphabetenrate und eine hohe Arbeitslosigkeit plagt. Die bescheidenen Fortschritte nach Krieg und Ebola stehen jetzt ebenso wie der gesellschaftliche Zusammenhalt wieder auf dem Prüfstand.