Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Im Büro ist der Notfallrucksack immer dabei
Charlotte Mohn lebt und arbeitet seit November in Kyiv, der Hauptstadt der Ukraine
- Das Krisengebiet Ukraine ist seit November der neue Arbeitsplatz der Städteplanerin Charlotte Mohn, die gerade eine Woche Urlaub bei ihren Eltern in Riedlingen macht. Diese „Zwangsfreizeit“ist Pf licht, denn ihr Arbeitgeber verlangt, dass man sich nach vier Wochen Arbeit in einem Krisengebiet eine Woche außer Landes erholen soll. Charlotte Mohn ist das gewohnt, denn in den vergangenen zweieinhalb Jahren war sie in Afghanistan in Kabul tätig.
Die Heimreise nach Riedlingen gestaltet sich allerdings nicht ganz einfach: da in Kyiv keine Flugzeuge starten, nimmt sie einen Nachtzug nach Chelm, das in Polen an der Grenze zur Ukraine liegt. Elf Stunden dauert die Fahrt; sie nimmt einen Nachtzug mit Schlafkabinen. Von Chelm bis Warschau dauert es weitere drei Stunden mit der Bahn; dann nimmt sie ein Flugzeug nach Stuttgart. „Wenn Lotte in Warschau startet, fahren wir in Riedlingen los um sie am Flughafen abzuholen“, sagt ihr Vater August Mohn. Beide Eltern haben keine Angst um ihre Tochter; sie wissen, dass diese niemals leichtsinnig handelt und sie vertrauen auf ihre Informationen. Allerdings ist es Charlotte Mohn noch nicht gelungen, ihre Eltern zu einem Besuch in Kyiv zu überreden.
Charlotte Mohn hat zu einer anderen Un-organisation gewechselt: von der IOM, die sich vor allem mit Migrationsfragen
beschäftigt, zur Un-habitat, deren Arbeit sie bereits von Kenia kennt, wo sie ebenfalls einige Zeit tätig war. Diese Organisation arbeitet in über 90 Ländern daran, den transformativen Wandel in Städten und Siedlungen durch Wissen, politische Beratung, technische Hilfe und gemeinsames Handeln zu fördern. Dieses Aufgabengebiet – nachhaltige Städteplanung – findet Charlotte Mohn sehr „spannend, dynamisch und flexibel“, wie sie erzählt.
In Kyiv ist sie momentan noch die einzige Internationale; Unhabitat baut dieses Büro noch auf. Sie hat für sich eine schöne kleine Wohnung gefunden, direkt am zentralen Majdan-platz und unweit einer Metro-station. Dies musste nach Vorgaben der UN so sein, denn bei einem Luftalarm kann sie diese U-bahnstation rasch aufsuchen. Sie hat – wie viele Ukrainer und Ukrainerinnen
– einen kleinen „Notfallrucksack“gepackt, der unter anderem ein Erste-hilfe-set, ihre persönlichen Unterlagen, Nahrung und Getränke enthält, denn es ist nicht absehbar, wie lange man unter der Erde ausharren muss.
Während der Arbeitszeit gehen alle Mitarbeiter in eine nahegelegene Tiefgarage, wo ein provisorisches Büro aufgebaut ist mit Tischen, Stühlen und Internetanschluss. „Wir arbeiten dann einfach weiter“, sagt Charlotte Mohn, die das hervorragende Informationssystem lobt, das genau und differenziert warnt vor Flugzeugen, Raketen und Drohnen. Außerdem gebe es ein gut funktionierendes Luftabwehrsystem, welches vor allem die Innenstadt schützt.
Sie selbst hat keine Angst: „Wenn der Alarm vorbei ist, kann man in Kyiv ein ganz normales Großstadtleben führen.“Sie kann in allen Supermärkten einkaufen, Theater- und Opernbesuche machen und mit Freunden essen gehen. Lediglich von Mitternacht bis 5 Uhr gibt es eine Ausgangssperre. Durch lokale Mitarbeiter im Un-büro hat sie schon viele Kontakte geknüpft und sie ist auch dabei, Ukrainisch zu lernen.
Bei zwei Projekten, die schon angelaufen sind und die von Deutschland unterstützt werden, geht es um digitale Städteplanung. Städte, die vom Krieg durch Zerstörung oder eine große Anzahl von Binnengeflüchteten betroffen sind, werden dabei unterstützt, Wiederaufbaupläne zu erstellen. Dazu sammelt die UN Daten und stellt sie ukrainischen „Pilotstädten“zur Verfügung. Wichtig hierbei ist Nachhaltigkeit und Inklusion, beispielsweise für die vielen Kriegsversehrten.
Eine Zusammenarbeit mit der ukrainischen Regierung hat auch das Ziel, Dezentralisierung und
Transparenz zu unterstützen, die als Bedingungen für einen möglichen Eu-beitritt gelten. Die ukrainischen Städte sind dabei hoch engagiert und involviert, und sie sind dankbar für diese Unterstützung.
Das macht die Arbeit für Charlotte Mohn noch bedeutungsvoller; sie fühlt sich bei ihrer Arbeit und im Leben in der Ukraine richtig wohl und auch ausreichend sicher.
Die Ukraine legt sehr großen Wert darauf, dass der Name ihrer Hauptstadt den ukrainischen Namen Kyiv trägt. Viele Straßenund Ortsschilder wurden geändert. Auch Außenministerin Annalena Baerbock hat bei ihrem Besuch in der Ukraine Ende Februar zugesichert, auch im deutschen Sprachgebrauch den neuen Namen Kyiv zu verwenden, im deutschen Sprachgebrauch Kyjiw.