Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Abschiebungen nach Afghanistan werden Wahlkampfthema
SPD und Grüne kritisieren Kurs der Union – Wie die Rechtslage zu der Streitfrage aussieht
- Die Taliban erobern immer mehr Regionen in Afghanistan. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die Islamisten das ganze Land militärisch unter ihrer Kontrolle haben – mit allen Folgen für die Zivilbevölkerung. Für Deutschland stellt sich die Frage: Kann man unter diesen Bedingungen noch Menschen nach Afghanistan abschieben? SPD und Grüne sagen: Nein. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) ist hingegen der Meinung, dass das weiterhin möglich sein müsse.
Laschet sprach sich in der „Bild“zeitung vom Montag für weitere Abschiebungen aus. „Wir beobachten die Situation in Afghanistan sehr genau“, sagte der Cdu-vorsitzende. „Aber unsere Linie bleibt klar: Wer in Deutschland straffällig wird, hat sein Gastrecht verwirkt.“Der Grundsatz „Null Toleranz gegenüber Kriminellen“erlaube keine Ausnahmen.
Straftäter müssten „weiter konsequent abgeschoben werden, auch nach Afghanistan“, forderte daher Laschet. Allerdings könne Deutschland den Vormarsch der Taliban und die Folgen für die Bevölkerung auch nicht ignorieren. „Die Lage erfordert daher eine fortlaufende Bewertung und sorgsames Vorgehen bei Rückführungen“, mahnte der nordrheinwestfälische Ministerpräsident.
Zuvor hatte sich am Wochenende Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) für eine Fortsetzung der Abschiebungen ausgesprochen.
„Wir verhandeln gerade mit Afghanistan, damit wir Straftäter weiterhin dorthin abschieben können“, sagte er der „Bild am Sonntag“.
Scharfe Kritik an Seehofers Aussagen kam von Walter-borjans. „Diese Überlegung ist voll auf der menschenfeindlichen Linie von Populisten“, sagte der SPD-CHEF der „Rheinischen Post“vom Montag. „Auch ausländische Straftäter sind Menschen. Sie verdienen ihre Strafe, aber niemand hat das Recht, sie in den Tod zu schicken. Sollte das drohen, müssen Abschiebungen gestoppt werden.“
Vorsichtig äußerte sich die Sprecherin des Auswärtigen Amts, Maria Adebahr. „Wir sehen natürlich wie sich die Lage in Afghanistan rasant entwickelt“, Einschätzungen könnten auch ad hoc aktualisiert werden, sagte sie in Berlin. Die Lageberichte des Auswärtigen Amts sind maßgebliche Grundlage für Asyl- und Abschiebeentscheidungen. Dem Außenministerium war vorgeworfen worden, den Taliban-vormarsch und dessen Folgen zu verharmlosen.
Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums sagte am Montag, zwar hätten Straftäter bei Abschiebungen Priorität, generell seien aber alle Afghaninnen und Afghanen ausreisepflichtig, die nicht über ein Aufenthaltsrecht in Deutschland verfügten, auch Familien mit Kindern. „Grundsätzlich sind beide Gruppen verpflichtet, das Land zu verlassen“, sagte der Sprecher.
Die rechtliche Situation ist komplexer als die politischen Forderungen nahelegen. Thomas Oberhäuser ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht im Deutschen Anwaltverein. Er sagt: „Die Rechtslage ist völlig offen.“Viele Gerichte würden sich in ihren Entscheidungen auf den Asyllagebericht des Auswärtigen Amts für Afghanistan berufen, sagt Oberhäuser. Der aktuelle Bericht stellt zwar eine stärkere Gefährdung bestimmter Gruppen durch den Vormarsch der Taliban fest, aber keine generelle Gefährdung von Rückkehrern. Heikel dabei: Der Bericht bezieht sich auf die Lage Anfang Mai. Er trifft also eine Einschätzung zur Lage vor dem endgültigen Abzug der westlichen Truppen. Die Bundeswehr ist inzwischen nicht mehr in Afghanistan stationiert.
Ist also eine veraltete Einschätzung der Lage jetzt die entscheidende Grundlage für die Bewertung der deutschen Justiz? Nein, sagt der Migrationsrechtler Oberhäuser. Das Bundesverfassungsgericht habe eine klare Vorgabe gemacht: Derartige Entscheidungen müssten aufgrund von tagesaktuellen Entwicklungen getroffen werden.
Der Grüne Omid Nouripour fordert ganz in diesem Sinne das Spdgeführte Außenministerium auf, „sich endlich für einen aktuellen und realistischen Lagebericht einzusetzen“. Bereits am Wochenende hatte Grünen-chef Robert Habeck ein Ende der Abschiebungen verlangt.