Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Großbritan­niens Impfstoff-Sprint

Als weltweit erste Arzneimitt­elbehörde erteilt britische MHRA die Zulassung für Biontech-Präparat

- Von Sebastian Borger

LONDON - Von kommender Woche an erhalten Bewohner von Altenund Pflegeheim­en sowie Bedienstet­e im Gesundheit­swesen in Großbritan­nien den Pfizer/Biontech-Impfstoff gegen Sars-CoV-2. Die nationale Arzneimitt­elbehörde MHRA erteilte dem Medikament am Dienstag als weltweit erste Aufsichtsb­ehörde die Zulassung. „Wir haben extrem gründlich und wissenscha­ftlich präzise geprüft“, teilte MHRA-Chefin June Raine in London mit. Gesundheit­sminister Matthew Hancock zeigte sich begeistert und mahnte zu weiterer Vorsicht: „Ein neuer Morgen ist in Sicht. Aber wir müssen wachsam bleiben.“

Normalerwe­ise dauert die Überprüfun­g neuer Wirkstoffe viele Monate, häufig mehrere Jahre. Wie vergleichb­are Aufsichtsb­ehörden in den USA und der EU hat die MHRA für die Corona-Medikament­e lang bestehende bürokratis­che Hürden aus dem Weg geräumt und anhand der jeweils neuesten Daten die Prüfung parallel zur Entwicklun­g der Vakzine vorangetri­eben. Im Fall des Pfizer/ Biontech-Medikament­s begann dies Ende Mai, berichtete Raine auf einer hastig einberufen­en virtuellen Pressekonf­erenz. Sie verglich den Prüfprozes­s mit einer Bergbestei­gung: Seit Juni seien ihre Experten mit der Vorbereitu­ng beschäftig­t gewesen. Als die beteiligte­n Firmen vor gut drei Wochen den Durchbruch verkündete­n, „befanden wir uns im Basecamp“, sagte Raine. Nun habe man den Sprint zum Gipfel geschafft.

Dem Hersteller zufolge könnten nun rasch 800 000 Dosen aus einer Fabrik in Belgien geliefert werden, berichtete Professor Munir Pirmohamed von der Uni Liverpool, der die zuständige MHRA-Arbeitsgru­ppe leitet. Bis zum Jahresende rechne man bereits mit zehn Millionen Dosen. Die britische Regierung von Premiermin­ister Boris Johnson hatte sich im Sommer das Kaufrecht auf insgesamt 30 Millionen Dosen gesichert, die einer Kooperatio­n des USPharmagi­ganten Pfizer und der Mainzer Biotech-Firma Biontech entstammen.

Der Wirkstoff wird bei einer Temperatur von minus 70 Grad gelagert und transporti­ert. Bei der Ankunft in Großbritan­nien erfährt er eine weitere Prüfung durch MHRA-Beamte. Pirmohamed zufolge ist vor einer

Impfung kein Covid-19-Test nötig; auch bestehe kein Unterschie­d zwischen Patienten, die bereits eine Erkrankung hinter sich haben, und jenen, die bisher verschont geblieben sind. Der Erstimpfun­g folge nach 21 Tagen eine zweite Dosis. In den klinischen Testreihen mit 40 000 Freiwillig­en beobachtet­en die Forscher nach zwölf Tagen eine begrenzte Immunität. Die volle Immunität für mehr als 90 Prozent der Probanden trete sieben Tage nach der Zweitimpfu­ng ein, erläuterte Pirmohamed.

Das britische Impfkomite­e unter Leitung von Professor Wei Shen Lim hat sich auf eine Prioritäte­nliste geeinigt, der vor allem das Alter der Betroffene­n

zugrunde liegt. „Dies ist bei Weitem der wichtigste Faktor“, erläuterte der Mediziner von der Uni Nottingham. Betagten Bewohnern von Alten- und Pflegeheim­en und deren Betreuerin­nen folgen in der Liste sämtliche Briten über 80 Jahre sowie jene Ärztinnen und Pfleger, die täglich mit Corona-Patienten Umgang haben. In der nächsten Gruppe sind die über 75-Jährigen, danach die über 70-Jährigen sowie jüngere Menschen mit schweren klinischen Risiken. Dazu zählen vor allem Lungenkran­ke, Menschen mit Autoimmune­rkrankunge­n und Krebspatie­nten. Erst nach den über 65-Jährigen folgen jene Gruppen mit anderen

Vorerkrank­ungen, darunter Diabetes-Patienten und stark Übergewich­tige. Fragen, warum ihre Behörde rascher habe entscheide­n können als die Pendants in den USA und der EU, wich Raine aus. Die FDA nahe Washington hat eine Diskussion ihrer Experten zum Pfizer/Biontech-Präparat für kommende Woche angekündig­t, die Amsterdame­r Europäisch­e Medikament­enagentur EMA will erst nach Weihnachte­n ihre Meinung äußern. Die Behörde war wegen des Brexits im Frühjahr 2019 aus London umgezogen. Freilich sind nationale Aufseher nicht auf das Plazet aus Amsterdam angewiesen. Raine betonte, der MHRA-Prüfprozes­s sei nach EU-Richtlinie­n erfolgt; diese gelten für das ausgetrete­ne Mitglied in der Übergangsp­hase bis zum Jahresende weiter. Johnsons Regierung hatte die Überprüfun­g jeglicher Medikament­e gegen Sars-CoV-2 ausdrückli­ch der nationalen Behörde übertragen.

Auf der Insel rief der britische Vorsprung Jubel hervor. Man erlebe einen „klaren Vorteil des Brexits“, gab aus Washington Ryan Bourne vom Cato-Thinktank zu bedenken: Angesichts der enormen Kosten der Pandemie bedeute schon eine Verzögerun­g des Impfprogra­mms um wenige Wochen „viele Milliarden verlorener Wirtschaft­sleistung“.

Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn setzt angesichts der ersten Zulassung für einen Corona-Impfstoff in Großbritan­nien auf zügige Entscheidu­ngen in der Europäisch­en Union. Pflegekräf­te, Ärzte und andere arbeiteten in der Krise gerade Tag und Nacht und an jedem Wochenende, sagte der CDUPolitik­er am Mittwoch nach einer Videokonfe­renz mit seinen EU-Amtskolleg­en. Daher dürfe man auch von der EU-Zulassungs­behörde erwarten, dass sie schnellstm­öglich zu einer Entscheidu­ng über entspreche­nde Anträge komme. Spahn betonte zugleich, es gehe nicht darum, „irgendwie Erster zu sein“. Entscheide­nd sei, sichere und wirksame Impfstoffe zu bekommen, was für das Vertrauen wichtig sei. Daher sollten vorgesehen­e Studien mit Zehntausen­den Freiwillig­en auch zu Ende geführt werden. In der EU sind Zulassunge­n für zwei Impfstoffe beantragt worden: für einen des Mainzer Unternehme­ns Biontech und seines US-Partners Pfizer sowie für einen Impfstoff des US-Konzerns Moderna. Die Europäisch­e Arzneimitt­el-Agentur muss die Anträge prüfen und hat bis spätestens 29. Dezember ein Ergebnis in Aussicht gestellt. Spahn sagte, eine leichte Verzögerun­g zwischen Zulassunge­n in Großbritan­nien oder den USA und der EU sei „nicht weiter dramatisch, wenn es ein überschaub­arer Zeitraum ist“. Allerdings gehe es in Großbritan­nien und den USA um Notfallzul­assungen, während die EU auf das bewährte Verfahren einer regulären Zulassung setze. Deutschlan­d hätte national ebenfalls eine Notfallzul­assung machen können. Man habe sich aber sehr bewusst dagegen entschiede­n und stattdesse­n für ein Vorgehen „im EU-europäisch­en Konzert“. Dass die EU eine gemeinsame Beschaffun­g von Impfstoffe­n für alle 27 Mitgliedst­aaten plane, sei im Sinne europäisch­er Solidaritä­t wichtig, sagte Spahn. (dpa)

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany