Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Die alte Tante lässt es krachen
„Eine Frau mit berauschenden Talenten“ist eine Traumrolle für Isabelle Huppert
Eine Tonspur ist das Erste, was man sieht. Schnell beherrscht dann Isabelle Huppert das Bild: Beweglich, mit chicer Lederjacke, ist sie die einzige Frau in einer Männerwelt. Das Drogendezernat der Pariser Polizei belauscht ein paar Drogendealer mit einer Wanze, kurz bevor sie deren Wohnung stürmt. Huppert heißt Patience. Routiniert zieht sie sich eine schusssichere Weste über, bevor sie nachkommt. Sie ist nicht etwa die Chefin, sondern die Dolmetscherin der Polizei. Kühl, aber nicht ohne Empathie blickt Patience auf die zwei bei der Razzia Festgenommenen, die nun in Handschellen vor ihr sitzen. Als Dolmetscherin wird sie Zeugin von vielem, auch einer unangemessenen Behandlung der Verdächtigen. Andererseits erlebt sie Beleidigungen.
Schnell versteht man: Patience ist ausgelaugt. Sie hat ihre Arbeit satt. „Ich frage mich, was aus mir werden soll“, sagt sie zu ihrem Chef Philippe (Hippolyte Girardot), mit dem sie seit Jahren ein Verhältnis hat. Er behauptet: „Ich werde mich um dich kümmern.“Man sieht darauf ihren freundlich-skeptischen Blick – niemand kann so ironisch-wissend blicken, wie Isabelle Huppert – und weiß alles um diese pragmatische Beziehung.
Schnell kennt man auch die Eckdaten ihres übrigen Privatlebens: Patience lebt in Belleville, diesem 20. Arrondissement, das längst vom kleinbürgerlichen „urfranzösischen“Quartier im Osten zum Einwandererviertel mutiert ist. Einerseits Problembezierk, andererseits trendig wegen der bunten Vielfalt und dem Chinatown der französischen Hauptstadt. So wohnt Patience in einem Appartementblock aus den 50er-Jahren als einzige Französin unter lauter chinesischen Einwanderern.
Patience ist geschieden, die zwei Töchter erwachsen und aus dem Haus, die Mutter dauerhaft auf einer Pflegestation im nahegelegenen Krankenhaus. Patience muss sich zusammen mit der Pflegerin Khadidja (Farida Ouchani) um alles kümmern. In diesen Momenten schälen sich bereits vage die Konturen dieses im Großen und Ganzen ziemlich berechenbaren Plots heraus: Denn tatsächlich ist dies ein Film, der viel von der französischen Gesellschaft erzählt, ihren Gruppen, ihren Debatten, ihren Vorurteilen. Das weiße Frankreich und das migrantische, vor allem arabische.
Dieses hat zwei Seiten: Die derjenigen, die die ungeliebten, oft genug schmutzigen und schlecht bezahlten Arbeiten erledigen und die andere: der Kleinkriminellen, der Banden, und der Gangster. Auf den ersten Blick scheint dieser Film vor allem auch all jene Klischees zu bestätigen, die wir in diesem Zusammenhang sowieso schon im Kopf haben: Drogendealer, die immer wieder aus den gleichen Ländern kommen, die den Steuerzahler viel Geld kosten, denen kaum etwas nachzuweisen ist, und die Gesetze und liberale Bürgerrechte einseitig zu ihren Gunsten ausnutzen, Behörden und Akteure gegeneinander ausspielen.
Doch weil Patience fließend Arabisch spricht, ist sie näher dran an beiden, und den Menschen, die sie ausmachen. Sie liebt arabische Musik, und ist längst infiziert von der anderen Kultur. Und schnell weitet der Film den Blick und wird heiterer, verträumter, ohne an Spannung einzubüßen. Denn durch ihre Arbeit kommt Patience selbst einem tonnenschweren Drogenversteck auf die Spur und beschließt, das Haschisch auf eigene Kosten zu verkaufen – schließlich muss das Pflegeheim bezahlt werden, Mietrückstände und Steuerschulden ihres Exmannes belasten sie schwer. Schnell wird sie zur „Madame Weed“des Viertels. Für die schweren Jungs aus den Clans ist sie „die irre Tante“.
So wandelt sich Jean-Paul Salomés Film „Eine Frau mit berauschenden Talenten“– im Original heißt der Film „La Daronne“, was so viel wie „Die Alte“bedeutet – vom Polizeithriller zu einer subversiven Komödie um eine ältere Frau, die sich mit Verstand und Amoral in einer bösen Welt durchschlägt, in der keinem etwas geschenkt wird.
Isabelle Hupperts Auftritt und der Charakter ihrer Figur stehen dabei ganz im Zentrum: Mit links vermag Huppert eine Frau zu spielen, die fast 20 Jahre jünger ist als sie selbst. Lose basierend auf einem Roman von Hannelore Cayre ist dies ein Plädoyer für Lockerheit und die alltägliche Amoral des Lebens. Einmal bringt es Patience auf den Punkt: „Ganz schön problematisch diese Ehrlichkeit immer, nicht wahr?“
Eine ehrliche, aber unbequeme Wahrheit fällt auch am Schluss: Da erzählt Patiences chinesische Nachbarin, wie die Chinesen „Ärger mit Gesindel“begegnen: „Früher haben wir immer die Polizei gerufen. Aber zu uns Asiaten kommt sie nie. Deshalb regeln wir die Probleme jetzt selbst.“
Regie: Jean-Paul Salomé. Mit Isabelle Huppert, Hippolyte Girardot, Farida Ouchani, Liliane Rovère. 104 Min. Frankreich 2019. FSK: ab 12.