Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Revolution in Kirgistan
Demonstranten erzwingen Wahlannullierung – Premierminister tritt zurück
MOSKAU - Nach massiven Protesten hat die Wahlleitung im zentralasiatischen Kirgistan die Parlamentswahl für ungültig erklärt. Das teilte die Behörde am Dienstag in der Hauptstadt Bischkek mit. Begründet wurde die Entscheidung mit Manipulationen bei der Wahl vom Sonntag und den darauf folgenden Spannungen in der Ex-Sowjetrepublik. In der Hauptstadt war es zu Ausschreitungen gekommen, bei denen Demonstranten das Parlament besetzt hatten. Die verarmte Ex-Sowjetrepublik mit rund sechs Millionen Einwohnern steht nach zwei Revolutionen möglicherweise vor einem neuen Umbruch. Einen Rücktritt gab es bereits.
Vor allem am Dienstag war es fraglich, ob Präsident Sooronbai Dscheenbekow die Lage noch unter Kontrolle hat. Die Straßenkämpfer stürmten nicht nur das Parlament, sondern auch das Gebäude der Präsidialverwaltung. Außerdem drangen sie in ein Untersuchungsgefängnis ein und befreiten den dort inhaftierten Ex-Präsidenten Almasbek Atambajew und andere Oppositionspolitiker. Darunter den ehemaligen Parlamentarier Sadyr Dschaparow, den viele Demonstranten in Sprechchören als künftigen Staatschef feierten. Amtsinhaber Dscheenbekow sprach von einem Umsturzversuch, erklärte aber, er habe den Polizeiorganen befohlen, nicht scharf zu schießen, um Blutvergießen zu vermeiden.
Die Sicherheitskräfte setzten bei den Straßenschlachten in der Hauptstadt Wasserwerfer und Tränengas gegen die Demonstranten ein, die sich zum Teil ihrerseits mit Knüppeln und Pflastersteinen bewaffneten. Über 680 Menschen wurden verletzt, 164 ins Krankenhaus eingeliefert, einer kam um. Die Unruhen waren am Montag ausgebrochen, als das Resultat der Parlamentswahlen bekanntgegeben wurde. Danach überwanden nur vier Parteien die Siebenprozenthürde, drei davon gelten als regierungstreu, mehrere Oppositionsparteien hatten die Wahl boykottiert. Sie werfen der Regierung vor allem massiven Stimmenkauf vor. Laut dem Moskauer Zentralasienexperten Aschdar Kurtow verbirgt sich hinter diesem Machtkampf der politische Dauerkonflikt zwischen dem Norden und dem Süden Kirgistans. „Präsident Dscheenbekow kommt aus dem Süden. Die siegreichen Parteien sind Parteien des
Südens, während keine einzige Partei des Nordens ins Parlament gelangte.“Wie überall in Mittelasien organisierten sich Parteien nicht als ideologische oder soziale Interessengruppen, sondern als landsmannschaftliche Clanverbände.
Mehrere Unternehmerverbände riefen alle Seiten auf, Plünderungen und gewaltsame Geschäftsübernahmen zu verhindern. „Demokratie ist in Kirgistan leider immer auch die Macht der Straße“, sagt Kurtow. Viele politische Parteien stehen im Ruf, mit kriminellen Schlägerbanden zusammenzuarbeiten. Am Dienstag drangen Unbekannte in die Goldmine Dscherui ein, 150 Kilometer südwestlich der Hauptstadt, später brach dort ein Feuer aus.
Der jetzt ausgerufene revolutionäre Koordinationsrat ist offenbar gewillt, Ordnung zu schaffen, ernannte in der Hauptstadt einen neuen Bürgermeister und einen neuen Polizeichef. In einer Erklärung an die Bevölkerung kündigte er außerdem eine Sondersitzung des amtierenden Parlaments an. Die Regierung müsse ihren Rücktritt erklären, das Parlament eine Übergangsregierung wählen, in der ein „breites Spektrum der politischen Kräfte“vertreten sein werde. Unklar, ob damit auch Parteien gemeint sind, die dem Präsidenten nahe stehen. Der Oppositionspolitiker Adachan Madumarow, Vorsitzender des Koordinationsrats, sagte der russischen Agentur Sputnik, er habe keinen Kontakt zu Staatschef Dscheenbekow. Seine Regierung gibt sich offenbar schon geschlagen. Premierminister Kubatbek Boronow trat am Dienstag zurück. Das Parlament bestimmte den gerade erst befreiten Dschaparow zu seinem Nachfolger.