Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Tote bei Massenprotesten in Iran
Aufstände gegen die Regierung in mehr als 50 Städten – US-Präsident Trump mischt sich ein
TEHERAN - In Iran weiten sich die Proteste gegen die Regierung von Präsident Hassan Ruhani aus. Bis Montagabend starben nach Angaben des Staatsfernsehens mindestens 13 Menschen in Zentral-, West- und Südwestiran. In Teheran demonstrierten Tausende gegen die Regierung. In der Hauptstadt, wo es in der Silvesternacht zu Straßenschlachten zwischen Studenten und der Polizei kam, sollen bis zu 400 Menschen festgenommen worden sein. Europäische Diplomaten beschrieben die Proteste als „spontan, unorganisiert und führungslos“. Laut Korrespondentenberichten gab es Aufstände in mehr als 50 Städten.
Bei einer Krisensitzung des Parlaments in Teheran erklärte Präsident Ruhani am Montag, es wäre ein Fehler, die Proteste nur als ausländische Verschwörung einzustufen. „Auch sind die Probleme der Menschen nicht nur wirtschaftlicher Natur, sondern sie fordern auch mehr Freiheiten“, sagte Ruhani. Er kritisierte damit indirekt den erzkonservativen Klerus. Bei der Umsetzung seiner Reformen muss sich der Präsident oftmals den Mullahs beugen. Ruhani räumte am Montag jedoch ein, dass „die Regierung nicht alles unter ihrer Kontrolle“habe. Dennoch sollten die Proteste nicht als Gefahr, sondern als Chance angesehen werden. Bereits in seiner ersten Reaktion am Sonntag war er auf die Kritiker zugegangen. Er hatte die Proteste als ihr legitimes Recht bezeichnet, zugleich aber vor Ausschreitungen gewarnt. Die seit Donnerstag anhaltenden Kundgebungen richteten sich zunächst gegen die Wirtschafts- und Außenpolitik der Regierung, wurden dann aber zunehmend systemkritisch.
Die Proteste sorgen auch für neuen Zündstoff in den Beziehungen Irans zu den USA. US-Präsident Donald Trump hatte am Sonntag getwittert, die Menschen in Iran würden nicht länger hinnehmen, „wie ihr Geld und ihr Wohlstand zugunsten von Terrorismus gestohlen“werde. Ruhani nannte Trump im Gegenzug einen Heuchler. Der US-Präsident konterte am Neujahrstag wiederum per Twitter, das „große iranische Volk“sei über Jahre unterdrückt worden. Seinen Tweet beendete er in Großbuchstaben mit: „ZEIT FÜR EINEN WECHSEL!“
Erzkonservative Kräfte in Iran haben vermutlich die größten Proteste seit dem Jahr 2009 ausgelöst. Während Staatspräsident Hassan Ruhani das Demonstrationsrecht verteidigt, drohen Revolutionsgardisten mit der „eisernen Faust der Nation“.
Es war in Maschad, vor den Toren des schiitischen Imam-ResaSchreins, wo sich am vergangenen Donnerstag rund 300 Menschen versammelt hatten, um gegen die Wirtschaftspolitik von Präsident Ruhani zu demonstrieren. Angeführt wurden sie von Anhängern Ebrahim Raisis, einem erzkonservativen Kleriker, der bei den Präsidentenwahlen im Mai 2017 eine demütigende Niederlage gegen Ruhani erlitten hatte.
Bilder der lautstarken Proteste vor dem Schrein wurden über den Messenger-Dienst Telegram binnen weniger Stunden im gesamten Iran verbreitet – und offenbar gründlich missverstanden: nämlich als Signal für landesweite Proteste gegen die hohe Arbeitslosigkeit, gestiegene Lebenshaltungskosten sowie gegen das kostspielige Engagement der Revolutionsgardisten in Syrien, Irak und dem Libanon.
Größte Protestwelle seit 2009
In mehr als 50 iranischen Städten und Ortschaften gingen in den letzten vier Tagen die Menschen auf die Straßen. Es sind die größten Demonstrationen seit den Massenprotesten nach der umstrittenen Wiederwahl von Mahmoud Ahmadinedschad 2009, an denen sich fast drei Millionen Iraner beteiligt hatten. Damals kamen mehr als 30 Menschen ums Leben.
Insgesamt mindestens dreizehn Todesopfer in mehreren verschiedenen Städten werden auch dieses Mal gemeldet, unter ihnen ein Polizist. In Teheran kam auch in der Nacht auf Montag zu heftigen Straßenschlachten zwischen Studenten und der Polizei. Bis zu 400 Menschen sollen dort festgenommen worden sein. 200 waren es in der Stadt Arak. Nach Einschätzung europäischer Diplomaten sind die Demonstrationen „spontan, unorganisiert und führungslos“. Wie vor neun Jahren seien zur Zerschlagung der Proteste auch erzkonservative Gegendemonstranten eingesetzt worden. Dennoch könne man die Demonstrationen nicht mit der sogenannten grünen Revolution des Sommers 2009 vergleichen. Sicherheitskräfte hätten die Lage weitgehend im Griff.
„In einem Land, in dem die Ärmsten immer ärmer werden, ist es aber immer möglich, dass sich die Lage über Nacht dramatisch ändert“, warnte der in Teheran lebende Repräsentant eines europäischen Wirtschaftsunternehmens im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Trotz der schlechten Wirtschaftslage, fügte er hinzu, habe es keinerlei Anzeichen für die Massenproteste gegeben. Diese seien auch für die Regierung völlig überraschend gekommen.
Tatsächlich dauerte es drei Tage, bis Staatspräsident Ruhani reagierte. Explizit räumte er Regierungsgegnern das „in unserer Verfassung verankerte Recht zu friedlichen Demonstrationen“ein. Diese dürften aber nicht in Gewalt ausarten oder zur Zerstörung von öffentlichem Eigentum führen.
Zuvor hatte Ruhanis Vizepräsident Ehshaq Dschahangiri daran erinnert, dass es konservative Kräfte gewesen seien, die mit ihren Protesten in Maschad die landesweiten Demonstrationen ausgelöst hätten. Wer politische Proteste schüre, betonte er, müsse damit rechnen, die Kontrolle darüber zu verlieren und sich „die eigenen Finger zu verbrennen“.
Internet wieder verfügbar
Dass Dschahangiris Kritik verpuffte, war zu erwarten. Wie schon vor neun Jahren machten iranische Hardliner „Konterrevolutionäre und Agenten des Westens“pauschal für die Ausschreitungen verantwortlich. Die „Unruhestifter“würden die „eiserne Faust der Nation“schon bald zu spüren bekommen, drohte ein General der Revolutionsgardisten.
Im Gegensatz zu vielen Hardlinern scheint Präsident Ruhani eine Deeskalationsstrategie zu verfolgen: Das am Samstag blockierte Internet funktionierte am Montag wieder normal. Und auch über den MessengerDienst Telegram konnten Nachrichten und Videos verbreitet werden.
Die Zensur des Internets hatte an Silvester auch US-Präsident Donald Trump angeprangert und sich in einem Tweet für das Demonstrationsrecht in Iran eingesetzt. Landeskenner halten die Intervention für kontraproduktiv: Trumps Einmischung schwäche die Protestbewegung und deren Anliegen.