Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Steinmeier redet Parteien ins Gewissen
Morgen trifft der Bundespräsident SPD-Chef Schulz, der in der Partei Gegenwind spürt
BERLIN - Nach dem Scheitern der Sondierungen für eine Jamaika-Koalition hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Initiative übernommen. Am Dienstag traf er die Parteichefs von Grünen und FDP, um sich über die Gründe für den Abbruch der Verhandlungen mit der Union zu informieren. In den nächsten Tagen spricht er mit den Spitzen von CSU und SPD, um vielleicht einen Ausweg aus der politischen Sackgasse zu finden. Morgen empfängt Steinmeier, dessen Mitgliedschaft in der SPD derzeit ruht, Martin Schulz, den Parteichef der regierungsunwilligen Sozialdemokraten.
Auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) rief die Parteien zu Kompromissbereitschaft auf. Es gebe derzeit eine außergewöhnliche Situation, sagte er im Parlament. „Es ist eine Bewährungsprobe, aber es ist keine Staatskrise.“Zu Beginn der Bundestagswoche betonte er: „Mit der Wahl hat das Volk entschieden, damit müssen wir als Gewählte nun umgehen, verantwortlich umgehen. Klar ist, dass regiert werden muss.“Schon am Montag nach dem Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte Steinmeier den Parteien ins Gewissen geredet und sie aufgerufen, dem Wählerauftrag gerecht zu werden.
Von den Gesprächen mit den Grünen-Parteivorsitzenden Simone Peter und Cem Özdemir sowie mit FDPChef Christian Lindner wurden keine Einzelheiten bekannt. Nach dem Treffen heute mit CSU-Chef Horst Seehofer kommt Steinmeier am Donnerstag mit SPD-Chef Schulz zusammen. Möglich wäre, dass die FDP an den Verhandlungstisch zurückkehrt, oder die SPD sich Gesprächen doch noch öffnet. Denkbar ist auch eine Minderheitsregierung. Andernfalls gäbe es Neuwahlen.
In der SPD-Bundestagsfraktion regt sich derweil erster Widerstand gegen die kategorische Absage an die Große Koalition. „Nach dem Aus von Jamaika haben wir eine neue Situation. Martin Schulz sollte offen in das Gespräch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gehen“, sagte Johannes Kahrs, der zum konservativen Seeheimer Kreis der SPD zählt, am Dienstag zur „Schwäbischen Zeitung“. „Wir können dem Bundespräsidenten nicht sagen: Rums, das war’s. Die Absage an die Große Koalition am Wahlabend war richtig. Dabei hat aber niemand damit gerechnet, dass die ,Koalition der Besserverdienenden‘ am Ende nicht zustande kommen wird.“
Auch der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Bernd Westphal, sprach sich für Kontakte mit CDU/CSU und gegen Neuwahlen aus. „Die SPD hat sich zu weit festgelegt“, sagte er dem „Handelsblatt“. Johannes Fechner, Rechtsexperte der SPD-Fraktion, empfahl: „Die SPD sollte nicht vorschnell auf Neuwahlen drängen und das Gespräch mit dem Bundespräsidenten ernst nehmen.“
Dass die FDP erneut über Jamaika verhandelt, erscheint unwahrscheinlich. Parteichef Lindner warb in einem Brief an die FDP-Mitglieder um Verständnis für den Abbruch der Sondierungen. Auf dem Verhandlungstisch habe im Wesentlichen „ein ambitionsloses ,Weiter so’ auf dem Kurs der Großen Koalition“gelegen, gespickt mit vielen Wünschen der Grünen. „Dafür können und wollen wir nicht zur Verfügung stehen“, schrieb er.
BERLIN - Diplomatisches Geschick wird ihm von allen Seiten bescheinigt nach acht Jahren als Außenminister. Frank-Walter Steinmeier weiß, wann es auf ihn ankommt, in internationalen Konfliktlagen wie der Ukraine oder dem Iran, oder eben jetzt, in der innenpolitischen Sackgasse nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen. Dass er dabei ausgerechnet und vor allem der SPD ins Gewissen reden muss, macht seine Mission allerdings besonders schwierig.
Der sonst eher machtlose Bundespräsident ist plötzlich in einer zentralen Rolle. Artikel 63 des Grundgesetzes regelt das. Vom Staatsoberhaupt hängt am Ende ab, ob es zu Neuwahlen kommt oder zu einer Minderheitsregierung. Vorher allerdings knöpft er sich noch einmal die Parteiführer vor, die ins Schloss Bellevue zu Gesprächen einbestellt wurden und werden.
Von 2005 bis 2009 und von 2013 bis 2017 hat Steinmeier als SPD-Außenminister mit der CDU-Kanzlerin eng zusammengearbeitet. Sicher weiß er, wo Merkels Stärken und Schwächen liegen. Wie Merkel dürfte auch Steinmeier nicht mehr darauf hoffen, dass sich FDP-Chef Christian Lindner besinnt und Jamaika doch noch möglich macht. Und wie die Kanzlerin dürfte Steinmeier alles versuchen, SPDChef Schulz zum Einlenken zu bewegen, um die große Koalition vielleicht doch zu verlängern.
Schulz saß am Dienstag mit meist finsterer Miene in der ersten Reihe des Plenums im Bundestag. Seine kategorische Absage an eine Große Koalition stoße in der SPDBundestagsfraktion auf wenig Begeisterung, heißt es. „Da bewegt sich etwas“, berichten Abgeordnete. Für Donnerstag hat der Bundespräsident Schulz zum Gespräch ins Schloss Bellevue gebeten.
Mahnung von Altmaier
„Wir können uns nach einer solchen Wahl nicht einfach in die Büsche schlagen“, schimpft CDU-Kanzleramtsminister Peter Altmaier über FDP und SPD und macht Druck: In den kommenden drei Wochen müsse es Klarheit über eine mögliche Regierungsbildung geben, und er beschwört: Es sei das „Markenzeichen“, dass Deutschland eine „stabile und verlässliche Regierung hat“. Neuer Anlauf für Jamaika oder doch wieder die Große Koalition – alles, nur nicht schon wieder die Wählerinnen und Wähler fragen, lautet die Devise der CDU.
Was Steinmeier von der Entscheidung der SPD hält, für eine Fortsetzung der Koalition mit der Union nicht zu Verfügung zu stehen, kann nur vermutet werden. Er selbst hat als Kanzlerkandidat 2009 aus einer Großen Koalition heraus die SPD zu ihrem bis dahin schlechtesten Ergebnis geführt. 2017 kam es dann mit Schulz noch mieser.
Seit März dieses Jahres ist Steinmeier im Amt. Die ersten Monate blieb er für viele farblos, doch nun läuft es besser. Im Oktober die Rede zum Tag der Einheit, dann der vielbeachtete Kurztrip zu Präsident Wladimir Putin nach Moskau, jetzt die Regierungsbildung. Steinmeier dürfte viel daran liegen, hier etwas zu bewegen. Dabei geht es dem erfahrenen Außenpolitiker auch um Deutschlands Bild in der Welt.
Phase der Unsicherheit beenden
Schon bei seinem Besuch in Paris vor zwei Wochen musste Steinmeier zur Kenntnis nehmen, wie groß die Sorgen um die künftige deutsche Außenpolitik in Frankreich sind. Demonstrativ unterstützte er den Reformkurs des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. „Ich stehe, wie die große Mehrheit meiner Landsleute, an Ihrer Seite“, betonte er. „Ihr Schwung aus Frankreich, den spüren wir in Berlin. Und ich bin sicher: Wir werden ihn mit Elan aufnehmen.“Daraus wird wohl erst einmal nichts. Aber die Phase der Unsicherheit im Krisenmodus soll möglichst kurz sein. Eine starke Neigung zum Aktenstudium sagen ihm viele nach, er soll sich sogar die Papiere der Jamaika-Verhandlungen bestellt haben, um zu erfahren, woran es denn nun genau gelegen hat. Jedenfalls will Steinmeier eine umfassende Entscheidungsgrundlage auf dem Tisch haben, wenn er dann irgendwann entscheiden muss. Neuwahlen wären vielleicht die einfachere Lösung, aber eine Minderheitsregierung will Steinmeier nicht deshalb ausschließen, weil es sie noch nicht gegeben hat. Er sieht sich als Hüter des Grundgesetzes, nicht als Erfüllungsgehilfe der Parteien.
Eine Umfrage zum Abbruch der Sondierungsgespräche und Reaktionen darauf finden Sie unter Schwäbische.de/fdp_jamaika