Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Montage überm Abgrund
Auf der Zugspitze steht derzeit die höchste Baustelle Deutschlands
Ein vorsichtiger Blick über das wacklige Baustellengeländer hinweg in die Tiefe: 1200 Meter soll es hier runtergehen. Da kann einem schon flau im Magen werden. Über dem Abgrund, hinter dem die Nordwand der Zugspitze liegt, steht nur eine weit aus dem Berg hinausragende Plattform, an der künftig Seilbahnkabinen halten – wenn die Arbeiten auf Deutschlands höchstgelegener Baustelle beendet sind. Ab 21. Dezember 2017 soll die neue Gipfelverbindung der Bayerischen Zugspitzbahn laufen. Dann mag es auf der Plattform zivilisiert und nach moderner Architektur aussehen. Jetzt wirkt sie in ihrer Rohform wild, fast chaotisch.
Zudem ist der Frühsommer im Tal geblieben. Auf dem 2962 Meter hoch gelegenen Gipfel herrschen frostige Temperaturen. Es stürmt. Und weil der Tag auch noch grau daher kommt, wächst die Sehnsucht nach einer warmen Ofenbank in einer gemütlichen Stube. Ob dies bei den Männern auch so ist, die draußen auf vereisten Stahlträgern über dem Abgrund balancieren? „Ach was, wir haben dicke Arbeitskleidung an“, ruft Max Stofferin herüber, während er einen großen Schraubenschlüssel schwingt. Atemberaubend, wo der drahtige Schlosser aus Südtirol herumwerkelt. Schwindelgefühle wären tödlich. „Gefährlich ist es schon, wenn es einen da hinschmeißt“, meint Stofferin. Letztlich sei alles aber nur Gewohnheit.
An Seilen gesichert
Dies stimmt vielleicht für den wettergegerbten Burschen. Als Baustellenbesucher kann man hingegen fast nicht hinschauen. Wenigstens haben die Männer Klettergurte angelegt und sind über Seile gesichert. Ein Abrutschen würde trotzdem zu Verletzungen führen. Allein die Vorstellung, wie eine Marionette an Stricken über dem Abgrund zu baumeln, gleicht einem Alptraum. Bemerkenswerterweise scheint aber seit Beginn der Arbeiten nichts Dramatisches passiert zu sein. Jedenfalls ist in der Baustellenchronik kein entsprechender Zwischenfall vermerkt. Verena Lothes, die junge Kommunikationsmanagerin der Bayerischen Zugspitzbahn, sagt: „Es gibt sehr strenge Sicherheitsvorschriften. Wir haben bisher aber auch Glück gehabt. Toi, toi, toi.“
Dieser Fortuna-Segen dauert nun schon seit 2015 an. Seinerzeit wurde mit dem Projekt angefangen, einen Ersatz für die alte, an ihre Kapazitätsgrenzen gelangte Eibseeseilbahn zu schaffen. Der tiefere Grund findet sich dann auch im ungebrochenen Touristenansturm auf den obersten Zipfel Deutschlands mit seiner Aussichtsplattform, den Restaurants und dem eindringlichen, vergoldeten Gipfelkreuz. Gegenwärtig drängt jedoch ein von Dohlen umflatterter Baustellenkran das heilige Zeichen visuell an den Rand. Die höchste Stelle Deutschland liegt so noch einige Meter weiter oben. Dies goutieren auch Touristen. Der Kran scheint ein ebenso gutes Fotomotiv zu sein wie das Kreuz.
Er dreht sich. Last hängt am Ausleger. Dieser Tage scheinen die Arbeiten zügig voranzugehen. Doch seit Baubeginn gab es immer wieder Pausen. Viel zu viel Schnee – schön für die Skifahrer auf dem Zugspitzplatt mit dem schwindenden Gletscher, schlecht für die Arbeiter auf dem Gipfel. „Das Wetter“, betont der Kärntner Metallbauer Bernd Nott, „ist schon eine besondere Herausforderung auf dieser Baustelle.“Man glaubt es gerne. Der Gasbrenner gehört hier oben zum Routinewerkzeug. Sein Zweck: beispielsweise die tonnenschweren Stahlbauteile der neuen Bergstation zu enteisen.
Noch Ende April, Anfang Mai mussten sich die Männer manchen Weg zu ihren Arbeitsplätzen erst freischaufeln. Es hatte nochmals richtig geschneit. Teilweise sind bis zu 40 Beschäftigte im Gipfelbereich tätig. Neben der Exponiertheit der Baustelle macht ihnen vor allem die Logistik zu schaffen. „Alles Material kommt mit einer Lastenseilbahn vom Tal. Lagerplatz gibt es nur begrenzt. Weshalb zeitgerecht angeliefert werden muss“, beschreibt Nott die Situation. Auf Transporte durch Hubschrauber wird weitgehend verzichtet. Sie sind äußerst teuer und würden wohl auch den fortlaufenden Touristenbetrieb empfindlich stören.
Prinzipiell ist der komplett verbaute Gipfel seit Jahrzehnten gut erschlossen. Vom Tiroler Ferienort Ehrwald führt seit 1926 eine Seilbahn Richtung Gipfel. Sie wurde später bis ganz hinauf verlängert. Seit 1931 haben die Bayern einen eigenen Komfortzugang zur Bergspitze. Er geht über eine Zahnradbahn und eine kurze Seilbahn nach oben. Richtig schnell ist diese Verbindung nicht. Also sinnierten weiß-blaue Geister über eine weitere Seilbahn nach. Sie sollte am Eibsee bei Grainau beginnen. 1963 startete ihr Betrieb. Zuletzt nutzten eine halbe Million Menschen jährlich die Eibseeseilbahn für den Transport zum Gipfel. Die Masse sorgte für Ärger. Wer an schönen Ausflugstagen die betagte Bahn nutzen wollte, hatte manchmal stundenlang die Gelegenheit, auf den nahen Bergsee zu starren, denn die Warteschlangen waren endlos. Kinder quengelten.
Eine unwürdige Situation. Etwas Neues musste her. Schließlich wird nicht irgendein Wandergipfel bedient, sondern der „Top of Germany“, wie es heutzutage in der englisch gefärbten Werbesprache heißt. Um den Touristenstrom zum Gipfel am Fließen zu halten, kam es dann zu folgendem Plan: Der Neubau soll weitgehend parallel zum Betrieb der alten Bahn erfolgen. So geschah es auch. Bis die roten Kabinen Anfang April das letzte Mal Gäste transportierten.
Von der alten Anlage ist nicht mehr viel da. Bagger haben die Talstation weggebissen, ein neues Abfahrtsgebäude hat Form angenommen – modern, mit viel sichtbarem Metall und Glasfronten. „So wird heute eben gebaut“, meinen Ursula und Heinz Schmidt, ein älteres Ehepaar aus der Stuttgarter Gegend auf Zugspitz-Ausflug.
Fahren sollen künftig weitaus größere Kabinen. 120 Leute plus einem Fahrgastbegleiter passen dann rein. 75 Leute mehr als bei der Altbahn. Den Bau lassen sie sich auch etwas kosten: 50 Millionen Euro. In zwei Jahrzehnten soll das Geld wieder reingefahren sein.
Nur eine Stütze
Für den Moment aber muss jeder, der von bayerischem Grund aus zum Gipfel will, die ehrwürdige alte Zahnradbahn nehmen. Bevor das elektrisch betriebene Züglein in einem langen Tunnel verschwindet, bietet sich noch ein Blick auf ein zentrales Element der neuen Bahn: eine sich im Werden befindende Stahlbaustütze für Trag- und Zugseile. Ihre Höhe nach der Fertigstellung: 127 Meter. Sie gilt als weltweit höchste für solche Anlagen. Sie wird zudem die einzige Stütze beim Überwinden von fast 2000 Höhenmetern auf einer Distanz von viereinhalb Kilometern sein. Als weiterer Superlativ preist die Bayerische Zugspitzbahn das weltweit längste Spannfeld an: 3213 Meter.
„Da sind wir natürlich alle schon stolz. So einen Bau macht man nur einmal im Leben“, sagt Projektleiter Martin Hurm. Mindestens 50 Jahre soll die neue Bahn nach seinen Worten halten. Dass sie aber überhaupt am Berg bleibt, hat weiterer bauingenieurlicher Anstrengungen bedurft: eine noch stärkere Verankerung als bisher. Sie ist im Fels auf der Südseite der Bergstation festgemacht. Von den Ankern wird die nach Norden vorkragende Anlage gehalten, gleichzeitig werden die Zugkräfte der neuen Seilbahn aufgenommen. Ansonsten würde alles in die Tiefe rauschen.