Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Spur 4334 führt zum Tatverdächtigen
40 Jahre alter Lastwagenfahrer soll Joggerin in Endingen bei Freiburg ermordet haben – Mann wird weiterer Mord in Tirol angelastet
- Am Ende der Veranstaltung gibt es spontanen Applaus. Das ist ungewöhnlich bei einer Pressekonferenz, aber die Umstände sind es auch. Die Polizei informiert nicht allein die Medien, sie hat die Bürger der Gemeinde Endingen dazu geladen in die Stadthalle. Sie sollen erfahren, was die Ermittler zu sagen haben. Es sind gute Nachrichten: Aus Sicht der Fahnder ist der Mord an Carolin G. aufgeklärt. Der Beifall gilt der Arbeit der Beamten, er ist ein Dankeschön für den Arbeitseinsatz. Zugleich liegt in dem Klatschen etwas Befreiendes, es drückt auch die Erleichterung aus. Die Zeit der Unsicherheit ist vorbei.
„Das Thema war immer präsent“, sagt Barbara Ordegel, die im Ort eine Gaststätte betreibt. „Wir haben sie ja alle gekannt“, die 27 Jahre alte Frau, die am 6. November zu einer Joggingrunde aufbrach, nicht mehr zurückkam und Tage später tot gefunden wurde. In den Wochen nach dem Mord, da sei die Verunsicherung besonders groß gewesen, sie selbst aber auch Gäste hätten stets dafür gesorgt, dass weibliche Gäste nicht allein nach Hause gingen. Irgendjemand übernahm stets den Fahrdienst oder zumindest die Begleitung. Dass die Sonderkommission am Mittwoch voriger Woche verkleinert wurde, das hat man sehr aufmerksam registriert in der kleinen Kneipe. Dann am Freitag die Nachricht von der Festnahme eines Verdächtigen, die wie ein Lauffeuer die Runde machte. Wer immer das Lokal betreten habe, habe gefragt: „Hast du schon gehört …?“
Angst vor dem Täter
Polizeipräsident Bernhard Rotzinger spricht am Samstag davon, das subjektive Sicherheitsgefühl habe gelitten. Das ist sehr abstrakt formuliert, trifft aber den Kern. Zumal, wie Barbara Ordegel anmerkt, viele die Angst hatten, der Täter vom 6. November könne wieder zuschlagen. In der Pressekonferenz, die Ordegel zu Hause via Internet live verfolgt, fällt die Bemerkung, die Fallanalytiker seien davon ausgegangen, dass der Täter jederzeit wieder zuschlagen könne. Die Gefahr wurde als real eingeschätzt.
Der Druck war also ziemlich groß, der auf Richard Kerber lastete, dem Chef der Sonderkommission „Erle“. Die Anspannung ist ihm anzusehen und er kann sie auch noch nicht ablegen. „Auf uns wartet noch viel Arbeit“, beeilt sich der 48-Jährige zu sagen. Nur keine Euphorie. Um dann doch einen kleinen Einblick zu gewähren in das Innenleben der Sonderkommission, als am Freitag um 13.40 Uhr der Anruf kam mit der Nachricht, die sie alle so sehr herbeigesehnt und auf die sie hingearbeitet hatten: Treffer. Die DNA der Speichelprobe, die die Polizei am Mittwoch bei einem Verdächtigen genommen hatte, stimmt überein mit jener, die der „Spurenleger“bei Carolin G. hinterlassen hat. Und diese ist auch identisch mit jener, die bei der am 12. Januar 2014 in Kufstein getöteten 20 Jahre alten Austauschstudentin Lucile K. sichergestellt worden war. Nein, sagt Kerber, die Sektkorken hätten nicht geknallt am Freitag. So weit ging es dann doch nicht mit der Freude.
„Aber ich gebe zu, wir haben den Moment genossen.“Kurz huscht ein Lächeln über seine ansonsten eher angespannten Gesichtszüge, ja doch, die Kollegen hätten sich beglückwünscht, vielleicht gab es auch Umarmungen, wie es halt so ist, „wenn man ein Projekt erfolgreich abgeschlossen hat.“Für mehr sei der Anlass einfach zu bedrückend. Genugtuung? „Vielleicht kommt das später mal, im Rückblick, wenn wir alles richtig begreifen.“Solche Sätze sagen auch Sportler im Moment eines großen Erfolges. Sein direkter Vorgesetzter ist da weniger zurückhaltend. Er sei „glücklich und erleichtert“, sagt der Freiburger Kripochef Peter Egetemaier. Und Polizeipräsident Rotzinger spricht von einem „kriminalistischen Meisterwerk“.
Richard Kerber ist vielleicht einfach noch zu tief drin in der Arbeit, und er sagt, sie sei noch nicht beendet. So viele Fragen seien noch zu klären, noch müssten Beweise zusammengetragen werden. Der Mann, den die Polizei am Freitag festgenommen hat und gegen den am Samstag ein Haftbefehlt erging, bestreitet, am 6. November in Endingen die 27 Jahre alte Carolin G. vergewaltigt und getötet zu haben. Immerhin: Es bestehe „dringender Tatverdacht“, beharrt Oberstaatsanwalt Dieter Inhofer. Den sieht auch der Haftrichter, der Verdächtige sitzt ein. Das betont die Polizei am Montag noch einmal, nachdem es Drohungen gegen Unbeteiligte gegeben hat. Nur weil sie Fernfahrer und Osteuropäer sind.
DNA-Spuren am Opfer
Kerber ist an diesem Samstag in Endingen der gefragteste Mann. Und Kerber ist es, der die Details nennt. Demnach fand sich der entscheidende Hinweis für die Aufklärung in Kufstein am Inn. Dort wie in Endingen fanden sich am Opfer DNA-Spuren, dort wie in Endingen waren diese Spuren aber wegen der äußeren Umstände so schlecht, dass sie nicht für einen Abgleich in einer Datenbank genügten. Sie reichten aber für einen Vergleich mit einer Gegenprobe. Das Landeskriminalamt Tirol fragte also in Italien und in Deutschland nach, ob es dort vergleichbare ungelöste Fälle gebe: Opfer eine junge Frau, Vergewaltigung, wohl ein Zufallsopfer, keine Beziehungstat, Tatort in Autobahnnähe, Tattag am Wochenende, Mordwerkzeug eine Stange oder ein Rohr. Kerber reagiert. Die genetischen Fingerabdrücke wurden verglichen, sie stimmten überein. Damit hatte er einen neuen Ermittlungsansatz.
Und der war handfester als die Visionen eines Hellsehers, es war konkreter als die Spekulationen über Verbindungen zu anderen Delikten in Regensburg, Schiltach, Hanau oder dem Mord an der Dreisam in Freiburg im Oktober. Aber es bedurfte der Hartnäckigkeit von Kerber und seinen Mitarbeitern, die den Durchbruch brachte, der den Tiroler Kollegen nicht gelungen war: Im Fall Lucile K. gab es eine Mordwaffe, eine Hubstange, wie sie eingesetzt werden, um die Fahrerkabine eines Lastwagens mit einer Hydraulik zu kippen. Kerber klapperte alle Hersteller ab um zu erfahren, zu welchem Fahrzeugtyp genau diese Stange gehört. Wieso dies den Tiroler Kollegen nicht gelang, dazu kein Wort an diesem Samstag.
Mit diesem Hinweis konnte die Soko die 50 000 Datensätze zur Erhebung der Maut für den Bereich Kufstein für das Wochenende 12. Januar 2014 auf eine handhabbare Zahl reduzieren. Dann wurden die Speditionen angefragt: Welcher Fahrer stand an jenem Wochenende in Kufstein und wartete darauf, dass das Sonntagsfahrverbot auslief? Einem der Fahrer, die gemeldet wurden, wurde die Spurennummer 4334 zugeordnet.
Im nächsten Schritt verglichen die Mitarbeiter der Soko Erle die Liste mit jener aus den Handydaten der Funkzelle im Bereich Endingen/ Bahlingen. Und siehe da: Das Mobiltelefon von Spur 4334 war an besagtem Sonntag eingeloggt. Es gehört einem 40 Jahre alten Mann aus Rumänien, von Beruf Fernfahrer, nicht vorbestraft, der seit geraumer Zeit in der Region wohnt, im Januar 2014 aber noch für eine andere Spedition tätig war. Als sie ihn überprüften, fanden sie noch eine Besonderheit: Er besitzt einen blauen VW, wie ihn Zeugen am 6. November im Bereich in Tatortnähe gesehen hatten. Zwar hatte die Soko 400 Besitzer dieses Fahrzeugtyps überprüft, aber nur in einem einzigen Zulassungsbereich. Ein Zeuge hatte die Anfangsbuchstaben des Kennzeichens genannt. Hat sich der Zeuge beim Kennzeichen geirrt? Oder wurde im November ein falsches Kennzeichen montiert? Kerber wird dem nachgehen. Ebenso der Frage, ob der Verdächtige für weitere Straftaten in Betracht kommt.
Eltern benachrichtigt
Richard Kerber sagt, der Fall Endingen hätte ohne den Fall Kufstein nicht geklärt werden können – und umgekehrt. Das betont auch Walter Pupp, der Leiter des Landeskriminalamtes Tirol, der nach Endingen gekommen ist und berichtet, dass er am Freitag die Eltern der getöteten französischen Studentin Lucile K. verständigt habe. Sie hätten schon nicht mehr daran geglaubt, dass man die Tat nach so langer Zeit werde aufklären können. Eine Übereinstimmung mit dem Phantombild, das die Polizei angefertigt hat, gebe es nicht, sagt Kerber.
Oberstaatsanwalt Dieter Inhofer muss noch erläutern, weshalb nur Haftbefehl wegen des dringenden Tatverdachts in einem Fall ergangen sei. Für einen Mord im Ausland, verübt mutmaßlich von einem Ausländer an einer Ausländerin, seien deutsche Gericht nicht zuständig. Sollte ihm in Deutschland der Prozess gemacht werden, könnte später ein zweiter in Österreich folgen.
Der Fall sei ein Beweis dafür, dass Polizeiarbeit Geduld und einen langen Atem erfordert, sagt Egetemaier. Rotzinger dankt den Endingern für die vorbildliche Unterstützung der Polizeiarbeit, Bürgermeister HansJoachim Schwarz fordert mehr Befugnisse für die Polizei und bedankt sich seinerseits bei den Ermittlern. Beifall der rund 250 Endinger. Ende der Veranstaltung. Die Luft ist anders draußen, klarer, frischer. Über Endingen ist in dieser Zeit ein Regenguss niedergegangen, die Straßen sind noch nass.
Barbara Ordegel sagt, sie spüre einfach nur „eine große Erleichterung“. Bei sich, aber auch bei ihren Gästen.