Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Verdi hat die höchste Forderung
Tarifrunde 2017 beginnt morgen im öffentlichen Dienst – IG Metall sucht noch Konzepte
- Frank Bsirske, Vorsitzender der Gewerkschaft Verdi, gibt sich ungewohnt friedfertig. Er gehe von „konstruktiven Verhandlungen“aus, so dass es „keiner Zuspitzungen“bedürfe, meinte er vor den heute beginnenden Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst der Länder. Es ist der Auftakt zur Tarifrunde 2017. In ihr werden für 11,4 Millionen Beschäftigte neue Einkommensverträge ausgehandelt. Die dürften trotz steigender Teuerungsraten erneut Reallohnsteigerungen sichern.
Niedersachsens Finanzminister Peter-Jürgen Schneider (SPD), Verhandlungsführer der Arbeitgeber, wird wissen, dass er Bsirskes Worte nicht überbewerten darf. Es ist kaum vorstellbar, dass Verdi erstmals seit Jahren komplett auf Warnstreiks im öffentlichen Dienst verzichten wird. Die gehören für die zweitgrößte Gewerkschaft inzwischen fast zum festen Bestandteil von Tarifrunden, weil sie sich davon steigende Mitgliederzahlen verspricht. Verdi ist deshalb nach einer Übersicht des Instituts der deutschen Wirtschaft „Streikmeister“der Gewerkschaften.
Die Gespräche für die knapp eine Million Tarifbeschäftigten der Länder stehen aus Sicht der Gewerkschaften unter einem guten Stern: Die Einnahmequellen des Staates sprudeln kräftig. Für 2017 ist, so sagt Bsirske, beim Steueraufkommen ein Plus von 2,6 Prozent zu erwarten; damit seien die finanziellen Spielräume für die Gehaltsforderung vorhanden. Die summiert sich aber auf insgesamt sechs Prozent.
Anders als sonst üblich haben Verdi und der mitverhandelnde Beamtenbund (er vertritt mit seiner Tarifunion auch Angestellte) diesmal keine Zielmarke bei der linearen Einkommenserhöhung aufgestellt. Sie streben vielmehr einen nicht bezifferten Mindestbetrag als soziale Komponente an sowie zusätzliche Lohngruppen für Höherqualifizierte. Zudem verlangen sie mehr Geld für angestellte Lehrer. Zusammen eben sechs Prozent.
Auf diese Forderung haben die Arbeitgeber klassisch reagiert: „Weit überzogen und nicht akzeptabel.“Schneider verweist auf die Schuldenbremse des Grundgesetzes. Die erfordere strikte Ausgabendisziplin. „Auch die Gewerkschaften müssen die Realität akzeptieren, dass fast jeder zweite Euro an Steuereinnahmen der Länder für Personalausgaben aufgewandt wird.“Die Gewerkschaftsziele würden die Länderetats inklusive Übertragung auf Beamte rund sieben Milliarden Euro kosten.
Verdi und Beamtenbund haben mit der Forderung für den öffentlichen Dienst die bislang höchste für die Tarifrunde 2017 aufgestellt. Alle anderen liegen zwischen 5,5 und 4,5 Prozent. Genau diese Bandbreite hat die Spitze der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten ihren Branchen-Tarifkommissionen vorgegeben. In der Textil- und Bekleidungsindustrie sollen die Einkommen um 4,5 Prozent steigen, fordert die IG Metall, die für diese Bereiche verhandelt, weil sie einst die alte Fachgewerkschaft geschluckt hat. Fünf Prozent fordert Verdi in der Energiewirtschaft Ost. Noch offen ist, welche Gehaltserhöhungen Verdi im Handel anstreben wird. Hier beginnen die regionalen Gespräche in NRW im April.
Noch zeichnet sich auch nicht die Einkommensforderung für die 3,5 Millionen Beschäftigten der Metallund Elektroindustrie ab. In der Herzkammer der deutschen Wirtschaft beginnen die Verhandlungen erst im Dezember. In denen will die IG Metall auch neue Regeln zur Arbeitszeit verabreden. Es geht ihr dabei nicht wie früher um strikte Arbeitszeitverkürzungen für alle, sondern im Zeichen von Smartphone und Digitalisierung der Arbeitswelt um mehr individuelle Zeitsouveränität.
Kongress soll Klarheit schaffen
Die Gewerkschaft reagiert damit auch auf äußerst unterschiedliche Vorstellungen der Beschäftigten: Manche wollen mehr Urlaub, andere kürze Schichten, wieder andere nach Alter gestaffelte Arbeitszeiten, Freizeiten für familiäre Aufgaben. Mit einem Fachkongress im Sommer will sich die IG Metall Klarheit verschaffen über ihre Zielsetzung bei diesem Thema. Es wird die Tarifpolitik aller Gewerkschaften in den nächsten Jahren prägen.