Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Lindner schwört die Liberalen ein
FDP zieht mit Forderung nach einem durchsetzungsfähigen Rechtsstaat ins Wahljahr
- Mit einem kämpferischen Auftritt beim Dreikönigstreffen der FDP hat Parteichef Christian Linder die Liberalen auf das Wahljahr 2017 eingestimmt.
Bei der Kundgebung im Stuttgarter Staatstheater attackierte Lindner alle im Bundestag vertretenen Parteien scharf. Angesichts der offenen Fragen im Fall des Berliner Attentäters Anis Amri warf der FDP-Vorsitzende der Bundesregierung vor, hilflos zu reagieren. Offensichtliche Missstände bei den Behörden würden nicht beseitigt. Für die Liberalen geht es 2017 um den Wiedereinzug in den Bundestag. 2013 waren sie nur auf 4,8 Prozent der Stimmen gekommen und damit erstmals seit 1949 nicht ins Parlament eingezogen. Derzeit liegt die FDP in Umfragen zwischen fünf und sechs Prozent.
Rückenwind hatte es zuletzt aus Baden-Württemberg gegeben. Dort erzielten die Liberalen bei den Landtagswahlen im März 2016 immerhin 8,3 Prozent. Der Landesverband hatte sich bereits am Donnerstag auf einem eigenen Parteitag in Fellbach auf das Wahljahr eingeschworen. Die 400 Delegierten verabschiedeten mit wenigen Gegenstimmen einen Leitantrag, in dem sie zentrale Wahlkampfpositionen festlegten. Unter anderem fordern sie, den Solidaritätszuschlag abzuschaffen und die Kinderfreibeträge zu erhöhen.
Der Landesvorsitzende Michael Theurer betonte wie auch Lindner, die FDP wolle den liberalen Rechtsstaat stärken, ihn jedoch nicht aushöhlen. Statt etwa angesichts der Terrorgefahr die Videoüberwachung auszuweiten, müssten bestehende Gesetze konsequenter angewandt werden. Dazu brauche es auch mehr Polizisten. Der grün-schwarzen Landesregierung warf Theurer Schwerfälligkeit und Innovationsfeindlichkeit vor. „Was für Deutschland Mutti ist, ist für Baden-Württemberg Opi“, so Theurer in Anspielung auf Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und den grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann.
Auch FDP-Bundeschef Lindner kritisierte, die Bundesregierung stehe für Stillstand statt für Fortschritt. „Auch die heute unter 50-Jährigen haben ein Recht auf Wohlstand und Wachstum“, sagte der liberale Spitzenkandidat.
- Es ist ein Moment mit doppelter Symbolik im Stuttgarter Staatstheater: Die Regie des traditionellen Dreikönigstreffens der FDP blendet am Freitag ein großes gelbes „DU“auf magenta-farbenem Grund ein. „DU“im Gegensatz zum „Wir“, die Interessen des Einzelnen als Gegenpol zum alle vereinnahmenden „Wir“der Kanzlerin oder der SPD. Das ist die beabsichtigte Botschaft der Strategen an das Partei- und Wahlvolk. Doch gewollt oder ungewollt liefert dieses Bild eine zweite Nachricht. Vor dem fast erschlagend wirkenden „DU“steht Christian Lindner. Seit heute 38 Jahre alt, Parteivorsitzender in der schwersten Krise der Liberalen. Er soll die Partei von Heuss, Scheel und Genscher zurückführen in den Deutschen Bundestag. In den folgenden, entscheidenden Monaten wird Lindner im Rampenlicht stehen. Erst im Herbst, nach den Wahlen, wird sich zeigen, ob Verantwortung und Aufmerksamkeit ihn erschlagen, oder ob er dem großen „DU“gerecht geworden ist.
Lindner versteht es, sogar mit dem Untergang zu kokettieren. Die FDP könne seit 2013 ja nur aus der „APO“heraus die Stimme erheben. Das Kürzel „außerparlamentarische Opposition“verbindet man gemeinhin eher mit linken Bürgerinitiativen und grünem Castorprotest denn mit liberaler Vernunftpolitik. Doch von den Niederlagen der Vergangenheit redet in Stuttgart verständlicherweise niemand mehr ausführlich, auch Lindner nicht. Der Absturz aus der Regierungsverantwortung und dem Parlament, die Serie von Niederlagen bei Wahlen aller Art, der schmerzhafte Schrumpfungsprozess bei Personal und Finanzen: Das taugt nicht als Mutmacher für das selbst ausgerufene „Schicksalsjahr“.
Also jubeln sich die Liberalen an diesem Dreikönigstag selbst zu. Sie erinnern sich an die Wahlerfolge 2015 und 2016. In Hamburg und Bremen zogen die Liberalen mit ihren jungen Spitzenfrauen Katja Suding und Lencke Steiner wieder in die Parlamente ein, es folgten 2016 Rheinland-Pfalz und natürlich Baden-Württemberg. 8,3 Prozent holten die Liberalen in ihrem Stammland, angeführt von Hans-Ulrich Rülke. Dank der Ampelkoalition in Rheinland-Pfalz darf Baden-Württembergs FDP-Landeschef Michael Theurer mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Volker Wissing sogar wieder ein liberales Regierungsmitglied begrüßen. Allerdings sitzen im Staatstheater deutlich mehr ehemalige Minister. Auch am Tag des Mutmachens gibt es solche Indizien für den Ernst der Lage. Derzeit rangieren die Liberalen in den Umfragen bei rund sechs Prozent und säßen damit wieder im Bundestag. Aber abseits der Bühnen und Mikrofone geben die meisten FDPler zu: Die Angst vor dem endgültigen Absturz bleibt. Noch nie war es so ungewiss, wie sich die politische Großwetterlage entwickelt mit dem neuen US-Präsidenten Trump, den Wahlen in Frankreich und den Niederlanden mit starken Rechtspopulisten und mit steter Terrorgefahr. Ein Attentat kurz vor den Wahlen, und alles könnte anders kommen als prognostiziert.
Rhetorisch brillant
Der, auf den es so sehr ankommt, hat also vieles gar nicht selbst in der Hand. Das, was er tun kann, tut er – er kämpft. Um Punkt 12 Uhr tritt Lindner ans Mikrofon. Es folgt ein einstündiger, rhetorisch streckenweise brillanter Auftritt. Er positioniert die Liberalen in jener Nische, die sie für sich ausmachen: Als Angebot für jene, die von der CDU enttäuscht sind, aber für die der Rechtspopulismus keine Alternative ist. „Wir machen nicht mit Angst Politik“, lautet Lindners Abgrenzung zur AfD. „Es war falsch von Frau Merkel, geltendes EU-Recht außer Kraft zu setzen und die Grenzen zu öffnen“, betont er den Unterschied zur Union.
Ein durchsetzungsfähiger Rechtsstaat, der nicht zum Überwachungsstaat wird – das soll das liberale Rezept gegen den Terror sein. Nicht mehr Gesetze, sondern eine konsequente Anwendung ohne Ansicht der Person. „Die Herkunft darf weder Malus noch Bonus sein“, fordert Lindner. Im Gegensatz zu CDU, SPD, Grünen und Linken sieht er die Liberalen als einzige „Fortschrittspartei“. Der Staat müsse Kernaufgaben erledigen, etwa für Sicherheit sorgen – aber nicht in den Alltag der Bürger hineinregieren. Weniger Bürokratie, niedrigere Steuern, größere Offenheit für neue Technologien: Es sind klassische liberale Themen, die Lindner setzt und mit denen er punkten will. Die FDP als Partei der Vernunft, als Partei der leistungsbereiten Mitte, als Partei des Rechtsstaats und der Weltoffenheit: So ist die Marschrichtung.
Die Basis applaudiert ihrem Hoffnungsträger stehend für eine Stunde Kampf, für geballte Fäuste, scharfzüngige Attacken und kluge Analysen. Sie klatschen ihm und wohl auch sich selbst Mut zu. „Wir sprechen kaum über die Frage, was nach einem Scheitern im Herbst passiert“, sagt eine erfahrene FDP-Frau. „Aber wenn, dann sagt eigentlich jeder: ,Dann ist es vorbei.’“