Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Schüsse für die Ewigkeit
18 Schützen sind beim Elfmeterdrama von Bordeaux nötig, um den Sieger zu küren – Neuer: „Etwas Besonderes“
- Manuel Neuer baute sich vor der Kurve der deutschen Fans auf und zeigte, was er hat. Muskelspiele des „Man of the Match“kurz nach Mitternacht. Mit Recht. Der Nationaltorhüter hatte im Elfmeterschießen die Versuche der Italiener Matteo Darmian und Leonardo Bonucci entschärft. Den Torschützen zum 1:1 aus dem Spiel heraus (78. Minute per Elfmeter) wollte Neuer „auf jeden Fall nicht noch ein zweites Mal treffen lassen“. So wurde der Bayern-Torhüter zu einem der Helden von Bordeaux. Sein 70. Länderspiel wird „uns allen immer im Gedächtnis bleiben“, sagte er, „gerade für mich als Torwart war es etwas Besonderes“. Nett untertrieben. Der Welttorhüter hat überdies einen deutschen Uralt-Rekord geknackt, kassierte sein erstes Gegentor bei großen Turnieren seit 557 Minuten, also inklusive der WM 2014. Die bisherige Bestmarke lag bei 481 Minuten, gehalten von Sepp Maier.
„Das Elfmeterschießen war wirklich ein Drama“, meinte der 30-Jährige, „dass so viele Schützen angetreten sind, das haben ich noch nicht erlebt.“EM-Rekord eingestellt. 18 Schützen traten auch bei der EM 1980 im Spiel um Platz drei zwischen der CSSR und Italien (9:8) an.
Von den Spielern, die bei Schlusspfiff auf dem Platz standen, waren nur noch Benedikt Höwedes und Neuer übrig. Sie wären die nächsten gewesen ...
Neun Kurzgeschichten zu den neun deutschen Schützen:
Toni Kroos:
Lorenzo Insigne hatte das 1:0 vorgelegt, Ex-Bayer Kroos (26) glich aus – souverän. Im Mai war er im Finale der Champions-League mit Real Madrid gegen Stadtrivale Atlético vorzeitig ausgewechselt worden, schaute beim Duell vom Punkt nur zu. Real gewann 5:3. Kroos und die Elferdramen: 2012, bei Bayerns „Finale dahoam“, war er nicht angetreten, Chelsea holte den Pott.
Thomas Müller:
Sein persönliches EM-Drama geht weiter: kein Tor, nicht mal per Elfer. Der Bayern-Profi hätte Deutschland einen Vorteil verschaffen können, weil zuvor Simone Zaza die Kugel tänzelnd drüber gedroschen hatte. Doch Buffon hielt. „Aus dem Spiel heraus werde ich sicher die nächsten zwei Wochen nicht mehr antreten“, sagte Müller geknickt. Kurios: Müller wurde zum ersten deutschen Versager beim Elfmeterschießen seit Uli Stielike bei der WM 1982 gegen Frankreich.
Mesut Özil:
Andrea Barzagli stellte auf 2:1 für Italien, dann machte der Arsenal-Profi alles richtig, versetzte Buffon, der Ball knallte jedoch an den Pfosten. Özil, so Löw, habe sich gleich gemeldet vor Beginn des Shoot-out. Und das, obwohl er gegen die Slowakei nicht getroffen hatte. Der 27-Jährige hatte jedoch zuvor mit seinem Tor zum 1:0 in der regulären Spielzeit nach Kritik an seinen Leistungen viel Ballast abgeworfen.
Julian Draxler:
Graziano Pellè schoss vorbei, der Wolfsburger verwandelte sicher zum 2:2. Draxler war für Mario Gomez ins Spiel gekommen und bewies mit dem überzeugenden Elfmeter, dass ihn das nicht verunsichert hatte. Löw: „Julian habe ich gefragt und er hat gesagt: ,Klar, ich gehe hin.’“Und das mit 22 Jahren und 23 Länderspielen.
Bastian Schweinsteiger:
Neuer hatte Bonuccis Versuch gehalten, es schien alles bereit für die Story des Abends: Der für den verletzten Sami Khedira eingewechselte Kapitän sorgt für die Entscheidung – aber nein, drüber! Weiter 2:2. Sollte dieser Schuss etwa seine letzte Ballberührung als Nationalspieler gewesen sein? Auch nicht. Ging ja alles gut. Genau wie Schweinsteigers Wahl, auf das Tor vor der Italien-Kurve zu schießen. „Ich dachte darüber nach, wie die Dinge in der Vergangenheit liefen“, sagte er und erwähnte das Aus der Schweizer bei dieser EM, die auf ihre Kurve schossen und am Ende Polen jubelte. Und: 2012 verlor er in München das „Finale dahoam“– und setzte, die Südkurve in der Allianz Arena vor Augen, den letzten Elfer an den Pfosten.
Mats Hummels:
Die Schützen Nummer 6, die zunächst außen vor waren, mussten nun ran. Emanuele Giaccherini stellte auf 3:2, der künftige Bayern-Profi musste treffen – tat er auch. Sein letztes Elfmeterschießen verlor der 27-Jährige im Mai mit Borussia Dortmund gegen seinen künftigen Arbeitgeber, war jedoch während der regulären Spielzeit verletzt ausgewechselt worden. Bitter, dass der Innenverteidiger, einer der stärksten gegen Italien, nun im Halbfinale wegen seiner zweiten gelben Karte gesperrt fehlt.
Joshua Kimmich:
Marco Parolo erhöhte auf 4:3, nun musste der 21-Jährige in seinem vierten Länderspiel ran – und das obwohl er im Pokalfinale gegen Dortmund mit einem Kullerball gescheitert war. Hummels lobte den in Rottweil geborenen Burschen: „Dann das Ding so reinzuschießen, das ist aller Ehren wert.“
Jérôme Boateng:
Der Abwehrchef musste Mattia De Sciglio kontern – und schaffte das 5:5. Erleichterung beim Innenverteidiger, der mit seinem Handspiel den Elfmeter zum 1:1Ausgleich verursacht hatte. Boateng entschuldigte sich: „Da habe ich die Arme nicht schnell genug runter bekommen, tut mir leid.“
Jonas Hector:
Neuers Parade gegen Matteo Darmian öffnete die Tür – und der Kölner (siehe oben) ging durch, mit einem wackligen Linksschuss, der unter Buffon durchrutschte. Das Ende! Die Erlösung! „Es waren nicht mehr viele Leute da“, sagte der 26-Jährige zu Elfmeter Nummer 18 überglücklich, „irgendwann muss man dann, und dann hab ich mein Herz in die Hand genommen.“
Gesagt, getroffen. Halbfinale gebucht. Die komplette Einzelkritik der DFB-Elf lesen Sie unter: