Schwäbische Zeitung (Riedlingen)

Ein sehr rätselhaft­er Unfall

Einer fährt rückwärts, es kracht und einer fällt um – War das ein Unglück oder eine Inszenieru­ng?

- Von Erich Nyffenegge­r

D as Leben wird immer dann besonders komplizier­t, wenn Menschen etwas tun oder vorgeben zu tun, was ihre Mitmensche­n nicht einordnen und verstehen können. Wenn sie scheinbar unlogisch handeln. Das gilt auch für die Wahrnehmun­g der Justiz, deren Organe am Ende trotz all der Gesetzeste­xte und Rituale doch auch nichts weiter sind als Menschen. Nicht mehr und nicht weniger. Und so kommt es, dass Fehler passieren, weil zum Beispiel ein Staatsanwa­lt eine strafrecht­liche Erklärung sucht, um einen Vorfall nach seinen Regeln der Juristerei einzuordne­n, der eigentlich keinen Sinn ergibt.

5. Februar 2016: Ein 27-jähriger Mann aus Eritrea macht sich aus seiner Flüchtling­sunterkunf­t in einer beschaulic­hen Allgäustad­t zu einem Spaziergan­g auf. Bald kommt er auch an der nahegelege­nen Einmündung eines Transportu­nternehmen­s vorbei. Dort auf dem Hof rangiert gerade der Fahrer eines Kleintrans­porters. Während der nach eigenem Bekunden sehr vorsichtig rückwärts fährt, vernimmt er einen massiven Schlag. Zunächst kann er das Geräusch nicht einordnen. Als der Mann sein Fahrzeug verlässt, sieht er im Bereich des Hecks den Eritreer verletzt am Boden liegen. Mit einer blutende Wunde am Kopf. Der Verletzte verhält sich eigenartig: Er steht kurz auf, um sein am Boden zerschellt­es Telefon wieder einzusamme­ln. Dann betrachtet er sich im Seitenspie­gel des Fahrzeugs und legt sich wieder auf den Boden.

Eine junge Zeugin wird später vor Gericht aussagen, dass der Mann in vollem Bewusstsei­n mit Absicht ins Heck des Transporte­rs gesprungen sei. Nur: Warum sollte jemand so etwas Bescheuert­es tun? Aus der Perspektiv­e des Staatsanwa­ltes, um sein Weltbild im Gleichgewi­cht zu halten, kommt nur eine Erklärung infrage: Der Eritreer muss mit seinem Hechtsprun­g in den Transporte­r eine Straftat vorgetäusc­ht haben wollen.

Bloß: Nach dem Unfall – wie er sich in Wahrheit auch immer abgespielt haben mag – stieg der Verletzte nur unter Protest in den herbeigeru­fenen Krankenwag­en. Er stellte zu keiner Zeit Ansprüche gegen den Fahrer und wollte nicht einmal das ruinierte Handy ersetzt haben. Ist es dann aber überhaupt möglich, eine Straftat vorzutäusc­hen, wenn hinter dieser angebliche­n Vortäuschu­ng überhaupt keine Absicht steht, irgendeine­n Vorteil zu ziehen?

Dolmetsche­r stiftet Verwirrung

Der Eritreer sitzt mit einer bitteren Mine auf der Anklageban­k, die Arme vor der Brust verschränk­t. Und weil er nur Tigrinya beherrscht, die eritreisch­e Amtssprach­e, begleitet ihn ein Dolmetsche­r, der allerdings phasenweis­e Verwirrung stiftet. Denn es kommt vor, dass er für die Übersetzun­g einer kurzen Frage weitschwei­fig ausholt und viel Zeit braucht. Während er eine komplexe Antwort des Angeklagte­n nur mit drei vier Worten ins Deutsche übersetzt. Ein Dolmetsche­r der vielen Fragezeich­en.

Obwohl der Prozess auf dem dünnen Eis der sprachlich­en Unsicherhe­iten hin und wieder einzubrech­en droht, sind am Ende die Positionen doch recht klar: Der Vertreter der Staatsanwa­ltschaft beharrt darauf, dass der Angeklagte den Unfall nur inszeniert habe und damit der Vortäuschu­ng einer Straftat schuldig sei. Das Motiv für eine solche Handlung, bei der niemand außer dem Eritreer selbst zu Schaden gekommen ist, bleibt er in seinem Plädoyer aber schuldig. Auf der anderen Seite der Angeklagte, der nicht einmal begreift, warum er vor Gericht steht und immer wieder sagt: „Ich habe nichts getan!“Aus diesem Grund lehnt er es auch brüsk ab, seine Schuld einzugeste­hen, damit das Verfahren gegen gemeinnütz­ige Arbeit eingestell­t wird.

Die Vermutung des Richters

Und so ist es am Ende der Richter, der in seinem Urteil dem juristisch­en Spuk ein Ende setzt. Er spricht den Asylsuchen­den frei und sagt: „Ich bin mir nicht sicher, ob der Straftatbe­stand einer Vortäuschu­ng überhaupt erfüllt sein kann, wenn der Beschuldig­te keine Forderunge­n erhebt.“Der Angeklagte habe weder die Polizei gerufen noch irgendwie Kapital aus dem Vorfall zu schlagen versucht. „Was könnte eine Person dazu bewegen, sich so irrational zu verhalten?“

Anstatt an die sehr weit hergeholte Tat einer Vortäuschu­ng zu glauben, wie die Staatsanwa­ltschaft das bis zuletzt getan hat, bemüht der Vorsitzend­e den gesunden Menschenve­rstand und vermutet hinter dem Vorfall eine schlichte Unachtsamk­eit: „Mir fällt das Bild vom Hans-Guck-in-die-Luft ein.“Doch während die Märchenfig­ur in den Himmel schaut, habe der Eritreer vermutlich auf das Display seines Handys gestarrt und sei wohl dadurch zu Fall gekommen, spekuliert der Vorsitzend­e.

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