Schwäbische Zeitung (Riedlingen)
Ein sehr rätselhafter Unfall
Einer fährt rückwärts, es kracht und einer fällt um – War das ein Unglück oder eine Inszenierung?
D as Leben wird immer dann besonders kompliziert, wenn Menschen etwas tun oder vorgeben zu tun, was ihre Mitmenschen nicht einordnen und verstehen können. Wenn sie scheinbar unlogisch handeln. Das gilt auch für die Wahrnehmung der Justiz, deren Organe am Ende trotz all der Gesetzestexte und Rituale doch auch nichts weiter sind als Menschen. Nicht mehr und nicht weniger. Und so kommt es, dass Fehler passieren, weil zum Beispiel ein Staatsanwalt eine strafrechtliche Erklärung sucht, um einen Vorfall nach seinen Regeln der Juristerei einzuordnen, der eigentlich keinen Sinn ergibt.
5. Februar 2016: Ein 27-jähriger Mann aus Eritrea macht sich aus seiner Flüchtlingsunterkunft in einer beschaulichen Allgäustadt zu einem Spaziergang auf. Bald kommt er auch an der nahegelegenen Einmündung eines Transportunternehmens vorbei. Dort auf dem Hof rangiert gerade der Fahrer eines Kleintransporters. Während der nach eigenem Bekunden sehr vorsichtig rückwärts fährt, vernimmt er einen massiven Schlag. Zunächst kann er das Geräusch nicht einordnen. Als der Mann sein Fahrzeug verlässt, sieht er im Bereich des Hecks den Eritreer verletzt am Boden liegen. Mit einer blutende Wunde am Kopf. Der Verletzte verhält sich eigenartig: Er steht kurz auf, um sein am Boden zerschelltes Telefon wieder einzusammeln. Dann betrachtet er sich im Seitenspiegel des Fahrzeugs und legt sich wieder auf den Boden.
Eine junge Zeugin wird später vor Gericht aussagen, dass der Mann in vollem Bewusstsein mit Absicht ins Heck des Transporters gesprungen sei. Nur: Warum sollte jemand so etwas Bescheuertes tun? Aus der Perspektive des Staatsanwaltes, um sein Weltbild im Gleichgewicht zu halten, kommt nur eine Erklärung infrage: Der Eritreer muss mit seinem Hechtsprung in den Transporter eine Straftat vorgetäuscht haben wollen.
Bloß: Nach dem Unfall – wie er sich in Wahrheit auch immer abgespielt haben mag – stieg der Verletzte nur unter Protest in den herbeigerufenen Krankenwagen. Er stellte zu keiner Zeit Ansprüche gegen den Fahrer und wollte nicht einmal das ruinierte Handy ersetzt haben. Ist es dann aber überhaupt möglich, eine Straftat vorzutäuschen, wenn hinter dieser angeblichen Vortäuschung überhaupt keine Absicht steht, irgendeinen Vorteil zu ziehen?
Dolmetscher stiftet Verwirrung
Der Eritreer sitzt mit einer bitteren Mine auf der Anklagebank, die Arme vor der Brust verschränkt. Und weil er nur Tigrinya beherrscht, die eritreische Amtssprache, begleitet ihn ein Dolmetscher, der allerdings phasenweise Verwirrung stiftet. Denn es kommt vor, dass er für die Übersetzung einer kurzen Frage weitschweifig ausholt und viel Zeit braucht. Während er eine komplexe Antwort des Angeklagten nur mit drei vier Worten ins Deutsche übersetzt. Ein Dolmetscher der vielen Fragezeichen.
Obwohl der Prozess auf dem dünnen Eis der sprachlichen Unsicherheiten hin und wieder einzubrechen droht, sind am Ende die Positionen doch recht klar: Der Vertreter der Staatsanwaltschaft beharrt darauf, dass der Angeklagte den Unfall nur inszeniert habe und damit der Vortäuschung einer Straftat schuldig sei. Das Motiv für eine solche Handlung, bei der niemand außer dem Eritreer selbst zu Schaden gekommen ist, bleibt er in seinem Plädoyer aber schuldig. Auf der anderen Seite der Angeklagte, der nicht einmal begreift, warum er vor Gericht steht und immer wieder sagt: „Ich habe nichts getan!“Aus diesem Grund lehnt er es auch brüsk ab, seine Schuld einzugestehen, damit das Verfahren gegen gemeinnützige Arbeit eingestellt wird.
Die Vermutung des Richters
Und so ist es am Ende der Richter, der in seinem Urteil dem juristischen Spuk ein Ende setzt. Er spricht den Asylsuchenden frei und sagt: „Ich bin mir nicht sicher, ob der Straftatbestand einer Vortäuschung überhaupt erfüllt sein kann, wenn der Beschuldigte keine Forderungen erhebt.“Der Angeklagte habe weder die Polizei gerufen noch irgendwie Kapital aus dem Vorfall zu schlagen versucht. „Was könnte eine Person dazu bewegen, sich so irrational zu verhalten?“
Anstatt an die sehr weit hergeholte Tat einer Vortäuschung zu glauben, wie die Staatsanwaltschaft das bis zuletzt getan hat, bemüht der Vorsitzende den gesunden Menschenverstand und vermutet hinter dem Vorfall eine schlichte Unachtsamkeit: „Mir fällt das Bild vom Hans-Guck-in-die-Luft ein.“Doch während die Märchenfigur in den Himmel schaut, habe der Eritreer vermutlich auf das Display seines Handys gestarrt und sei wohl dadurch zu Fall gekommen, spekuliert der Vorsitzende.