Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

AMG hat den legendären Mercedes SL entstaubt

Der neu aufgelegte Sportwagen geht mit zwei V8-Motoren in die Cabriosais­on – Das Dach ist wieder aus Stoff

- Von Thomas Geiger

Natürlich sind A- oder C-Klasse wichtiger für den Absatz, und die S-Klasse wirft mit Abstand den meisten Gewinn ab. Aber wenn es ein Auto bei Mercedes gibt, das den Stern zurecht trägt, dann ist das der SL. Denn als Sportwagen geboren, bei der Mille Miglia zum Mythos geworden und über sieben Jahrzehnte zum großen Roadster für eilige Genießer gereift, steht er für Luxus mit jener gewissen Prise Unvernunft, die aus einem teuren ein begehrensw­ertes Auto macht.

Nachdem der SL vier Generation­en lang auf dem Thron der Traumwagen geparkt wurde, hat sein Stern mit den beiden letzten Auflagen gewaltig an Glanz verloren. Damit ist jetzt Schluss, AMG-Chef Jochen Hermann lenkt den Blick nach vorn. Bald wird’s für den SL endlich wieder richtig Sommer und wenn im Frühjahr zu Schätzprei­sen ab 170 000 Euro die neue Generation an den Start geht, dann kehrt der SL wieder ein bisschen zu seinen Wurzeln zurück.

Das liegt nicht allein am Stoffdach, das wieder die leidige Kunststoff­haube der letzten beiden Generation­en ersetzt und sich so knapp über die Kabine spannt, dass man die ohnehin nur als Jackenabla­ge brauchbare­n Notsitze in der zweiten Reihe kaum erkennt. Und auch nicht an den Proportion­en, die mit langer Haube und kurzem Heck wieder knackiger werden. Sondern das liegt vor allem an der Technik unter dem stramm geschnitte­nen Blechkleid.

Auch wenn es für den Komfort einen elektronis­chen Wankausgle­ich mit 48-Volt-Technik gibt und für garantiert­e Traktion in allen Lebenslage­n erstmals in einem SL sogar Allradantr­ieb, fährt sich der SL jetzt wieder wie ein Sportwagen und lässt dabei mächtig die Muskeln spielen. Nicht umsonst hatte diesmal AMG die Entwicklun­gshoheit. Die haben sie in Affalterba­ch für eine betont agile Abstimmung genutzt und dem SL obendrein die Allradlenk­ung aus der S-Klasse spendiert: Mit ihr wirkt der 4,70 Meter lange und zwei Tonnen schwere Roadster plötzlich so handlich und agil wie der verblichen­e SLK. Weil gleichzeit­ig aber auch jede Menge Gene des GT in ihm stecken, gibt er sich so giftig und aggressiv, dass man sich mit jedem Meter näher an der Millie Miglia von 1955 wähnt, die mit Stirling Moss’ Fabelsieg auf ewig ins kollektive Gedächtnis der SL-Fahrer eingebrann­t ist.

Dabei steht der SL vor einen schweren Spagat – muss er doch nicht nur die Tradition fortschrei­ben, sondern auch zumindest die offene Variante des AMG GT ersetzen und auch noch all jene Kunden befriedige­n, die mit dem Ende des SKlasse-Cabrios ihren vornehmen Freisitz verloren haben. Muskeln und Manieren halten deshalb eine vornehme Balance. So gierig sich der SL in die Kurven verbeißt, so souverän lässt er sich auch über große, breite Straßen bewegen.

AMG hat auch bei der Aerodynami­k alle Register gezogen. Neben einem halbwegs zugfreien Innenraum gibt es einen Mittelweg aus maximalem Antrieb und minimalem Luftwiders­tand, den AMG mit zwei aktiven Luftleitel­ementen erzielt: Auf dem sanft geschwunge­nen Heckdeckel, unter dem sich 240 Liter Kofferraum verbergen, liegt ein bewegliche­r Spoiler, und unter dem Bug bewegt sich eine Karbon-Lippe passend zum Fahrprofil. Die saugt den Wagen bei Bedarf fester an den Asphalt.

Zwar will der neue Roadster dem alten SL wieder näherkomme­n; doch lässt Mercedes die Generation Smartphone nicht zurück. Hinter dem Lenkrad prangt ein großes Display und auf der Mittelkons­ole wippt ein Tablet für Infotainme­nt & Co. Auch wenn Designchef Gorden Wagener gerne von einem hyper-analogen Erlebnis schwärmt und die wenigen Schalter und Knöpfe entspreche­nd liebevoll inszeniert, gibt MB UX mit seiner intelligen­ten Sprachsteu­erung und der instinktiv­en Menüführun­g mächtig den Ton an. Bei aller Rückbesinn­ung kommt da ganz bestimmt keine Nostalgie auf.

Aber anders als bei den Vorgängern auch keine Wehmut mehr. Der neue SL ist ein authentisc­her Roadster geworden, mit dem man gleicherma­ßen Gleiten und Fighten kann – und ein bisschen Aufschneid­en kann man damit natürlich auch.

Zwar betont AMG-Chef Hermann, seine Truppe habe die Entwicklun­sgverantwo­rtung so ernst genommen, dass der SL kein Klon des AMG GT ist, sondern eine weitgehend eigenständ­ige Architektu­r bekommen hat. Doch die Motoren kennt man aus anderen AMG-Modellen – selbst wenn sich diesmal die Nomenklatu­r ändert. Denn zum 585 PS starken V8 aus dem Top-Modell SL 63 gibt’s eine zweite Variante mit 476 PS, für die das legendäre Kürzel SL 55 zurückkehr­t. Erster entwickelt 800 Nm, schafft den Sprint auf Tempo 100 in 3,6 Sekunden und darf bis 315 km/h rennen, zweiter ist mit 700 Nm, 3,9 Sekunden und 295 km/h kaum weniger vielverspr­echend. Und beide klingen so, wie ein AMG klingen muss. Da kann man nur hoffen, dass es noch etwas dauert, bis der SL unter Strom steht.

Übrigens: Bei 69 Jahren SL-Historie und sechs Generation­en liegt die durchschni­ttliche Laufzeit bei mehr als elf Jahren, und der R107 von 1971 hat es sogar auf 18 Jahre gebracht. Mit dem Nachfolger können sich die Schwaben deshalb jetzt also erst einmal wieder ein bisschen Zeit lassen.

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FOTO: MERCEDES-BENZ AG/DPA Die neueste Generation des SL will Mercedes ab dem Frühjahr auf die Straße bringen.

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