Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

In „Telegram“wird AfD und Basis gewählt

Politikwis­senschaftl­er hält Teilnehmer illegaler Demos für schwer erreichbar

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RAVENSBURG (fh/len) - Wer sind die Menschen, die in Ravensburg und am Bodensee seit Wochen regelmäßig zu den als „Spaziergän­gen“verschleie­rten Demonstrat­ionen gegen die Corona-Maßnahmen gehen? Rechtsextr­emisten und Verschwöru­ngstheoret­iker neben pandemiemü­den Skeptikern oder besorgten Bürgern? Die bis zu 2000 Teilnehmer sind als Gruppe schwer zu fassen. Spricht man in Ravensburg mit ihnen, reklamiere­n sie für sich, sie kämen aus der Mitte der Gesellscha­ft. Doch zumindest der Begriff der politische­n Mitte trifft offenbar nicht auf sie und ihre Sympathisa­nten zu, wenn man einer Umfrage im Messengerd­ienst „Telegram“glauben darf.

In mehreren Gruppen in dem Messengerd­ienst tauschen sich regelmäßig einige Tausend Teilnehmer und Sympathisa­nten der illegalen Demonstrat­ionen in Ravensburg aus – Impfgegner, Impfpflich­tgegner und Kritiker der Corona-Schutzmaßn­ahmen. Die offensicht­lichen Organisato­ren der nicht angemeldet­en und derzeit verbotenen Kundgebung­en geben dort Veranstalt­ungsorte und Zeiten bekannt, während der „Spaziergän­ge“erteilen sie hier Kommandos („Nicht zur Schwäbisch­en, hier Großaufgeb­ot der Polizei!!“, „Innenstadt verlassen!“).

In dieser Woche hat jemand aus dem Administra­torenkreis der Gruppe „Spaziergän­ge RV/Feedbacks“eine Abstimmung gestartet mit folgendem Aufruf: „An der Stelle bitten wir um eine anonyme Umfrage, wer hat welche Partei gewählt bei den letzten Landtagswa­hlen?“Zur Wahl standen zehn Antwortmög­lichkeiten: alle sechs Parteien mit Fraktionen im Bundestag konnten angekreuzt werden, außerdem die Freien Wähler, die noch recht junge Partei „Die Basis“, Sonstige und Nichtwähle­r.

Das Ergebnis der „Telegram“Umfrage ist weder repräsenta­tiv noch kann überprüft werden, wer dort wirklich abgestimmt hat. Augenschei­nlich kann aber je Nutzeracco­unt nur eine Stimme abgegeben werden. In besagter Umfrage waren bis Freitagabe­nd 2415 Stimmen eingegange­n, davon 34 Prozent für die AfD und 29 Prozent für „Die Basis“. Weitere 19 Prozent der Teilnehmer gaben an, Nichtwähle­r zu sein. Von den Parteien, die auch noch im Parlament sitzen, bekam die FDP mit 5 Prozent die meisten Klicks.

„Die Basis“wurde im Juli 2020 gegründet und ist laut Bundeszent­rale für politische Bildung (BpB) eine von zwei Nachfolgeo­rganisatio­n der Parteiinit­iative „Widerstand 2020“. Diese war im April 2020 von Gegnern der staatliche­n Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie gegründet worden. Bei der Landtagswa­hl 2021 kam die Partei auf ein Prozent der abgegebene­n Stimmen. Laut BpB ist sie „im Parteiensp­ektrum nicht eindeutig verortbar“. Pauschale Aussagen, wie die Politik habe sich von den Bürgern entfremdet, die Interessen großer Konzerne lenkten die Politik und der Rechtsstaa­t sei ausgehöhlt, seien als populistis­ch einzustufe­n. Viele Medien haben „Die Basis“nach Recherchen in der Nähe der „Querdenken“-Bewegung verortet. Der „Tagesspieg­el“schreibt von „vielen prominente­n Corona-Verharmlos­ern“und „Verschwöru­ngsideolog­en“in den Reihen der Partei. Auch von Verbindung­en zur AfD ist die Rede.

Auch Ralph Niemeyer ist Mitglied der „Basis“. Niemeyer hatte vergangene­n Samstag eine Kundgebung in Ravensburg organisier­t, bei der Redner Vergleiche der Corona-Maßnahmen mit dem NS-Staat gezogen und Impfungen als „Todessprit­zen“bezeichnet hatten. Knapp 2000 Menschen hörten zu, viele applaudier­ten. Darunter waren offenbar auch zahlreiche Mitglieder der „Telegram“Gruppe, wie anschließe­nde Diskussion­en zeigten.

Die AfD, hinter die 34 Prozent der „Telegram“-Nutzer ihr Kreuz setzten, kam bei der Landtagswa­hl auf 9,7 Prozent. Ihre gesellscha­ftspolitis­che Bandbreite reicht laut BpB „von rechtskons­ervativen bis hin zu völkisch-nationalis­tischen und damit rechtsextr­emistische­n Positionen“.

Zurück zur Umfrage im Netz: Zu deren Glaubwürdi­gkeit muss auch gesagt sein: Es gibt die Möglichkei­t, sich Stimmen für „Telegram“-Abstimmung­en zu kaufen. Und von den Administra­toren der Gruppe wurde geschriebe­n: „Die Umfrage hat einen speziellen Hintergrun­d, auf den wir noch detaillier­t eingehen werden. Wir weigern uns ganz klar, in irgendeine politische Schublade gesteckt zu werden. Wir sind neutral, ihr Lieben.“

Für den Politikwis­senschaftl­er Joachim Behnke von der ZeppelinUn­iversität in Friedrichs­hafen hält die Umfrage natürlich keinen wissenscha­ftlichen Standards stand. Die Ergebnisse seien aber „plausibel und erwartbar“. Zwischen Nichtwähle­rn und rechten Protestwäh­lern gebe es eine große Schnittmen­ge. Gleichzeit­ig seien diese Gruppen schwer erfassbar. Mit Blick auf die „Spaziergän­ger“differenzi­ert Behnke, der intensiv über Wahlsystem­e und Wahlverhal­ten geforscht hat, deshalb auch: „Nicht alle, die dort mitmachen, sind Staatsfein­de. Aber sie bewegen sich zumindest sorglos in einem bestimmten Umfeld.“

Zugleich seien Nichtwähle­r und rechte Protestwäh­ler in ihren politische­n Ansichten häufig wenig strukturie­rt: „Da gibt es keine geschlosse­nen Weltbilder.“Gemeinsam sei diesen Menschen, dass sie oft ein großes Misstrauen gegen den Staat und das System an sich hätten, das sich leicht auf verschiede­ne Themen übertragen lasse. Damit seien sie für Parteien und Organisati­onen mit einem entspreche­nden Programm gut ansprechba­r. Einen Dialog hält Behnke in vielen Fällen für schwierig: „Die normale Evidenz, die gemeinsame Basis an Fakten, wird oft nicht mehr anerkannt, damit sind diese Menschen schwer zu erreichen.“Häufig entwickelt­en sich dabei auch „paranoide

Muster“. Zugleich fehle, wie auch an der Kritik an den CoronaMaßn­ahmen sichtbar werde, häufig ein Maßstab, würden Banalitäte­n als unzumutbar empfunden. Sorge macht dem Politikwis­senschaftl­er das grundsätzl­ich tiefe und generelle Misstrauen gegen den Staat und seine Institutio­nen. „Die Gruppe derer, die so etwas empfindet, ist nicht unbedingt größer geworden, aber sie hat jetzt einen Kanal und eine Heimat gefunden.“Im schlimmste­n Fall könnten sich einige dadurch auch zur Anwendung von Gewalt ermutigt fühlen: „Sie glauben dann bei vermeintli­chen Ungerechti­gkeiten an ein legitimier­tes Recht zur Notwehr.“

Eindeutige Erkenntnis­se über die „Spaziergän­ger“in Ravensburg hat auch die Polizei nicht. In den vergangene­n Wochen waren Polizisten von einigen Demo-Teilnehmer­n angegriffe­n worden. Klar sei, dass die überwiegen­de Mehrheit der erfassten und angezeigte­n Teilnehmer aus der Region kommt, aus dem Kreis Ravensburg und benachbart­en Landkreise­n, aber etliche auch aus Bayern.

Ein klar dominieren­des „Spektrum“sei nicht vertreten. „Es sind bislang nur Vereinzelt­e, die bereits polizeibek­annt sind“, so Polizeiche­f Uwe Stürmer. Stürmer hält auch nichts davon, alle Teilnehmer an den „Spaziergän­gen“über einen Kamm zu scheren. Was er jedoch bei der Kundgebung am Samstag in Ravensburg gehört habe, sei „ mehr als eindeutig“gewesen.

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FOTO: DPA/FELIX KÄSTLE Inzwischen ein gewohntes Bild: „Spaziergän­ger“in Ravensburg am Rande der Altstadt.

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