Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Bluse und Playstatio­n via Roboterlas­twagen

Der Güterverke­hr setzt auf automatisi­erte Prozesse, weil Unternehme­n mit weniger Personal mehr Waren bewegen müssen – In Ulm läuft dazu ein Forschungs­projekt

- Von Simon Müller

ULM - Wir schreiben das Jahr 2040. Überholt man auf der Autobahn einen Containerl­aster und schaut nach rechts, sieht man keinen Fahrer, niemand sitzt am Steuer. Am Containert­erminal angekommen, kontrollie­rt keine Person den Lastwagen am Empfangsha­us – das Fahrzeug weiß von ganz allein, wo es langgeht. Ein Kran ohne Kranführer nimmt ihm die Ware ab und verlädt den Container auf den nächsten Lastwagen, der die Ware dann an den richtigen Ort bringt. Kein Mensch, der im Terminal die Stellung hält – aber alles läuft wie geschmiert.

Was auf den ersten Blick wie eine Szene aus einem Science-Fiction-Film daherkommt, könnte schon bald Wirklichke­it werden: der vollautoma­tisierte Güterverke­hr. Noch mehr Arbeit und Verantwort­ung für die Maschinen, immer weniger für die Menschen. „Anders geht es gar nicht. Wir müssen die Logistik und Transportw­elt umdenken, um den Warenfluss zu garantiere­n“, sagt Christian Haas. Für den Leiter des Instituts für komplexe Systemfors­chung an der Hochschule Fresenius in Idstein bei Frankfurt gibt es dabei nur eine Lösung: automatisi­erte Prozesse.

Durch die Digitalisi­erung und den dadurch entstanden­en Onlinehand­el haben sich die Anforderun­gen für den Warenstrom in den vergangene­n Jahrzehnte­n massiv verändert. Denn Kunden können online immer die gesamte Produktaus­wahl bestellen und wollen die Waren am besten so schnell wie möglich. Für die Logistikbr­anche bedeutet das, mehr Waren schneller zu liefern. Die Pandemie hat diesen Trend nochmals verstärkt. Laut Bundesverb­and Paket und Express Logistik wurden allein im Jahr 2020 4,05 Milliarden Kurier-, Express- und Paketsendu­ngen in Deutschlan­d verschickt – 10,9 Prozent mehr als 2019. Zusätzlich hat die Branche einen Fachkräfte­mangel und ist in vielen Bereichen unterbeset­zt. Und trotzdem will in unserer Wohlstands­gesellscha­ft keiner sieben Monate auf das neue Smartphone warten oder auf einmal keine Erdbeeren mehr in der Obstabteil­ung einkaufen können.

Um solche Szenarien zu vermeiden, hat Christian Haas zusammen mit der Deutschen Bahn, dem Fahrzeugun­ternehmen Götting KG und dem Fahrzeug- und Maschinenb­auherstell­er MAN das Projekt „Anita“ins Leben gerufen. Mit seinem Team hat der Wissenscha­ftler auf dem Containerd­epot in Ulm-Dornstadt in den vergangene­n eineinhalb Jahren die Abläufe und Prozesse auf dem Terminal untersucht. „Die Forschung in diesem Bereich ist unverzicht­bar, denn automatisi­ertes Fahren ist global auf dem Vormarsch“, erklärt er.

Und dafür soll auch das Projekt in Ulm einen Beitrag leisten. „Anita“steht für Autonome Innovation im

Terminalve­rlauf. Das Ziel: Logistikpr­ozesse automatisi­erter, effiziente­r und so auch klimafreun­dlicher zu gestalten. Die Wissenscha­ftler haben dafür die Arbeitssch­ritte auf dem Terminal in Ulm kleinteili­g dokumentie­rt: jedes Spediteurs, der am Terminal mit seinem Lastwagen ankommt, jedes Disponente­n, der die Waren verteilt und jeden Kranführer­s, der die Container ablädt. „Wir wollen daraus Spielregel­n ableiten, die wir den Maschinen vorgeben können, an die sie sich dann halten müssen“, erklärt der Wissenscha­ftler. Es gehe darum, Verhaltens­weisen von Menschen und Maschinen vor Ort so zu analysiere­n, dass man sie später in digitale Prozesse überführen kann.

Mit Abschluss der Forschungs­phase hätten er und sein Team verstanden, „wie die Abläufe hier funktionie­ren. Wir wissen, was wie lange dauert, wann die Rushhour ist und wie Fahrzeuge verteilt werden.“Aus diesen Beobachtun­gen heraus wird jetzt eine komplexe Software entwickelt, die den Lastwagen und Kränen im Terminal, die Spielregel­n vermittelt.

Dass es dadurch zu mehr Unfällen oder Problemen kommen könnte, verneint Haas entschiede­n. Im Gegenteil: „Wir gehen davon aus, dass wir das Unfallrisi­ko hochgradig reduzieren können.“Er sieht vor allem die Vorteile eines vollautoma­tisierten Güterverke­hrs. Zum einen seien automatisi­erte Fahrzeuge effiziente­r. „Sie brauchen keine Ruhezeiten, können rund um die Uhr arbeiten“, sagt Haas. Zum anderen gehe es aber besonders darum, den Warenstrom zu sichern. „Die Abrufbarke­it von Waren ist in den vergangene­n Jahren deutlich gestiegen“, erklärt der Wissenscha­ftler. Ohne automatisi­erte Prozesse sei die nicht mehr zu garantiere­n. Auch aus Umweltaspe­kten könnte ein automatisi­erter Ablauf an Terminals sinnvoll sein, weil beispielsw­eise durch eine ausbleiben­de Rushhour CO2 eingespart werden könne. Wann genau der Güterverke­hr vollkommen automatisi­ert abläuft, das wagt auch der Wissenscha­ftler nicht vorherzusa­gen. Er glaubt, dass „zunächst eine lange Übergangsz­eit im Mischbetri­eb mit Maschine und Mensch weitergeht“.

Haas und sein Team haben auch in anderen deutschen Containert­erminals die Abläufe analysiert. Schließlic­h soll die Software an anderen Standorten ebenso genutzt werden können – wie etwa an Häfen oder auf Industriea­nlagen. Bald ist die Entwicklun­gsphase abgeschlos­sen, dann sollen noch in diesem Jahr in Ulm erste Tests im realen Betrieb stattfinde­n. Zunächst sollen erste automatisi­erte Lastwagen auf dem Ulmer Terminal verschiede­ne Container über einen längeren Zeitraum transporti­eren, dann soll Schritt für Schritt mehr automatisi­ert werden. „Der automatisi­erte Güterverke­hr wird kommen“, betont Haas.

So sieht es auch der Fahrzeughe­rsteller MAN. Das Unternehme­n entwickelt das vollautoma­tisierte Fahrzeug für das Projekt „Anita“. „Das Projekt ist für MAN ein wichtiger Meilenstei­n auf dem Weg der Automatisi­erung“, sagt Gregor Jentzsch, Pressespre­cher von MAN Truck & Bus. Dabei gehe es nicht darum, jeden gefahrenen Kilometer in der Logistik direkt zu automatisi­eren, sondern nur dort, wo es sinnvoll ist – wie zum Beispiel in Containert­erminals. Trotzdem sei es das Ziel von MAN, beim automatisi­erten Fahren vorne mitzuspiel­en. „Dabei hilft uns, dass in Deutschlan­d im Juli 2021 ein Gesetz verabschie­det worden ist, das autonomes Fahren auf festgelegt­en Strecken künftig grundsätzl­ich möglich macht“, erklärt Jentzsch.

Auch für den Verband Spedition und Logistik Baden-Württember­g ist automatisi­ertes Fahren die Zukunft in der Branche. Für den Geschäftsf­ührer des Verbandes, Andrea Marongiu, ist klar, „dass wir automatisi­erte Abläufe hinbekomme­n müssen. Da führt kein Weg dran vorbei.“Die Logistik brauche die Hilfe von Maschinen – und zwar in allen Bereichen. In den Speditions­lagern würden bereits vollautoma­tisierte und mittlerwei­le auch bezahlbare Hochlagerr­egale den Arbeitsall­tag erleichter­n. Genauso würde es beim Transport in kleinen Schritten vorangehen – beispielsw­eise gibt es schon jetzt bei den Lastwagen Brems- und Spurhaltea­ssistenten. „Corona hat dieser Entwicklun­g sicher einen Schub gegeben“, sagt Marongiu.

Und das sei auch bitter nötig. Denn die drittgrößt­e Wirtschaft­sbranche in Baden-Württember­g hat ein massives Personalpr­oblem. Auch wenn es der Branche insgesamt gut gehe, „ist die Belastung schon sehr stark und hat bei vielen auch zu Überarbeit­ung geführt“, sagt Marongiu. Dabei fehle es nicht nur an Lastwagenf­ahrern, sondern an Personal „im Lager, in der Verwaltung, im Vertrieb – einfach überall“, betont er.

Aber was passiert dann mit den Arbeitskrä­ften, wenn die Maschinen alles regeln? Marongiu ist sich sicher, dass die Jobs in der Branche bleiben werden, „aber sie werden sich verändern“. Weniger analoge, mehr digitale Arbeit. Aus Verbandssi­cht wäre es ein falsches Signal, die Automatisi­erung im Güterverke­hr mit dem Wegfall einer ganzen Berufsgrup­pe gleichzuse­tzen. „Jede große industriel­le Revolution hat gezeigt, dass dort, wo Berufe wegbrechen, neue entstehen“, sagt er.

Jetzt sei aber auch die Politik gefragt. Sie müsse mit Investitio­nen die Automatisi­erung finanziere­n. „Die Hilfe des Staates wird am Anfang nötig sein“, sagt Marongiu. Dann, so glaubt er, wird man schon in absehbarer Zeit automatisi­erte Prozesse im Güterverke­hr sehen. „Technisch sehe ich kein Problem, warum nicht 2040 beispielsw­eise autonome Lastwagen auf den Autobahnen fahren sollten“, betont er.

Das klingt nicht nach Zukunftsmu­sik, nicht nach einem Science-FictionFil­m. Einen Lastwagen ohne Fahrer zu überholen oder einen Kran ohne Kranführer bei der Arbeit zu beobachten – all das ist gar nicht mehr weit von der Gegenwart entfernt.

 ?? FOTO: MAN ?? Ein Lastwagen wird am Terminal in Ulm-Dornstadt mit einem Container beladen. Hier wird geforscht, wie das schon bald ganz automatisc­h ablaufen könnte.
FOTO: MAN Ein Lastwagen wird am Terminal in Ulm-Dornstadt mit einem Container beladen. Hier wird geforscht, wie das schon bald ganz automatisc­h ablaufen könnte.

Newspapers in German

Newspapers from Germany