Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Bluse und Playstation via Roboterlastwagen
Der Güterverkehr setzt auf automatisierte Prozesse, weil Unternehmen mit weniger Personal mehr Waren bewegen müssen – In Ulm läuft dazu ein Forschungsprojekt
ULM - Wir schreiben das Jahr 2040. Überholt man auf der Autobahn einen Containerlaster und schaut nach rechts, sieht man keinen Fahrer, niemand sitzt am Steuer. Am Containerterminal angekommen, kontrolliert keine Person den Lastwagen am Empfangshaus – das Fahrzeug weiß von ganz allein, wo es langgeht. Ein Kran ohne Kranführer nimmt ihm die Ware ab und verlädt den Container auf den nächsten Lastwagen, der die Ware dann an den richtigen Ort bringt. Kein Mensch, der im Terminal die Stellung hält – aber alles läuft wie geschmiert.
Was auf den ersten Blick wie eine Szene aus einem Science-Fiction-Film daherkommt, könnte schon bald Wirklichkeit werden: der vollautomatisierte Güterverkehr. Noch mehr Arbeit und Verantwortung für die Maschinen, immer weniger für die Menschen. „Anders geht es gar nicht. Wir müssen die Logistik und Transportwelt umdenken, um den Warenfluss zu garantieren“, sagt Christian Haas. Für den Leiter des Instituts für komplexe Systemforschung an der Hochschule Fresenius in Idstein bei Frankfurt gibt es dabei nur eine Lösung: automatisierte Prozesse.
Durch die Digitalisierung und den dadurch entstandenen Onlinehandel haben sich die Anforderungen für den Warenstrom in den vergangenen Jahrzehnten massiv verändert. Denn Kunden können online immer die gesamte Produktauswahl bestellen und wollen die Waren am besten so schnell wie möglich. Für die Logistikbranche bedeutet das, mehr Waren schneller zu liefern. Die Pandemie hat diesen Trend nochmals verstärkt. Laut Bundesverband Paket und Express Logistik wurden allein im Jahr 2020 4,05 Milliarden Kurier-, Express- und Paketsendungen in Deutschland verschickt – 10,9 Prozent mehr als 2019. Zusätzlich hat die Branche einen Fachkräftemangel und ist in vielen Bereichen unterbesetzt. Und trotzdem will in unserer Wohlstandsgesellschaft keiner sieben Monate auf das neue Smartphone warten oder auf einmal keine Erdbeeren mehr in der Obstabteilung einkaufen können.
Um solche Szenarien zu vermeiden, hat Christian Haas zusammen mit der Deutschen Bahn, dem Fahrzeugunternehmen Götting KG und dem Fahrzeug- und Maschinenbauhersteller MAN das Projekt „Anita“ins Leben gerufen. Mit seinem Team hat der Wissenschaftler auf dem Containerdepot in Ulm-Dornstadt in den vergangenen eineinhalb Jahren die Abläufe und Prozesse auf dem Terminal untersucht. „Die Forschung in diesem Bereich ist unverzichtbar, denn automatisiertes Fahren ist global auf dem Vormarsch“, erklärt er.
Und dafür soll auch das Projekt in Ulm einen Beitrag leisten. „Anita“steht für Autonome Innovation im
Terminalverlauf. Das Ziel: Logistikprozesse automatisierter, effizienter und so auch klimafreundlicher zu gestalten. Die Wissenschaftler haben dafür die Arbeitsschritte auf dem Terminal in Ulm kleinteilig dokumentiert: jedes Spediteurs, der am Terminal mit seinem Lastwagen ankommt, jedes Disponenten, der die Waren verteilt und jeden Kranführers, der die Container ablädt. „Wir wollen daraus Spielregeln ableiten, die wir den Maschinen vorgeben können, an die sie sich dann halten müssen“, erklärt der Wissenschaftler. Es gehe darum, Verhaltensweisen von Menschen und Maschinen vor Ort so zu analysieren, dass man sie später in digitale Prozesse überführen kann.
Mit Abschluss der Forschungsphase hätten er und sein Team verstanden, „wie die Abläufe hier funktionieren. Wir wissen, was wie lange dauert, wann die Rushhour ist und wie Fahrzeuge verteilt werden.“Aus diesen Beobachtungen heraus wird jetzt eine komplexe Software entwickelt, die den Lastwagen und Kränen im Terminal, die Spielregeln vermittelt.
Dass es dadurch zu mehr Unfällen oder Problemen kommen könnte, verneint Haas entschieden. Im Gegenteil: „Wir gehen davon aus, dass wir das Unfallrisiko hochgradig reduzieren können.“Er sieht vor allem die Vorteile eines vollautomatisierten Güterverkehrs. Zum einen seien automatisierte Fahrzeuge effizienter. „Sie brauchen keine Ruhezeiten, können rund um die Uhr arbeiten“, sagt Haas. Zum anderen gehe es aber besonders darum, den Warenstrom zu sichern. „Die Abrufbarkeit von Waren ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen“, erklärt der Wissenschaftler. Ohne automatisierte Prozesse sei die nicht mehr zu garantieren. Auch aus Umweltaspekten könnte ein automatisierter Ablauf an Terminals sinnvoll sein, weil beispielsweise durch eine ausbleibende Rushhour CO2 eingespart werden könne. Wann genau der Güterverkehr vollkommen automatisiert abläuft, das wagt auch der Wissenschaftler nicht vorherzusagen. Er glaubt, dass „zunächst eine lange Übergangszeit im Mischbetrieb mit Maschine und Mensch weitergeht“.
Haas und sein Team haben auch in anderen deutschen Containerterminals die Abläufe analysiert. Schließlich soll die Software an anderen Standorten ebenso genutzt werden können – wie etwa an Häfen oder auf Industrieanlagen. Bald ist die Entwicklungsphase abgeschlossen, dann sollen noch in diesem Jahr in Ulm erste Tests im realen Betrieb stattfinden. Zunächst sollen erste automatisierte Lastwagen auf dem Ulmer Terminal verschiedene Container über einen längeren Zeitraum transportieren, dann soll Schritt für Schritt mehr automatisiert werden. „Der automatisierte Güterverkehr wird kommen“, betont Haas.
So sieht es auch der Fahrzeughersteller MAN. Das Unternehmen entwickelt das vollautomatisierte Fahrzeug für das Projekt „Anita“. „Das Projekt ist für MAN ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg der Automatisierung“, sagt Gregor Jentzsch, Pressesprecher von MAN Truck & Bus. Dabei gehe es nicht darum, jeden gefahrenen Kilometer in der Logistik direkt zu automatisieren, sondern nur dort, wo es sinnvoll ist – wie zum Beispiel in Containerterminals. Trotzdem sei es das Ziel von MAN, beim automatisierten Fahren vorne mitzuspielen. „Dabei hilft uns, dass in Deutschland im Juli 2021 ein Gesetz verabschiedet worden ist, das autonomes Fahren auf festgelegten Strecken künftig grundsätzlich möglich macht“, erklärt Jentzsch.
Auch für den Verband Spedition und Logistik Baden-Württemberg ist automatisiertes Fahren die Zukunft in der Branche. Für den Geschäftsführer des Verbandes, Andrea Marongiu, ist klar, „dass wir automatisierte Abläufe hinbekommen müssen. Da führt kein Weg dran vorbei.“Die Logistik brauche die Hilfe von Maschinen – und zwar in allen Bereichen. In den Speditionslagern würden bereits vollautomatisierte und mittlerweile auch bezahlbare Hochlagerregale den Arbeitsalltag erleichtern. Genauso würde es beim Transport in kleinen Schritten vorangehen – beispielsweise gibt es schon jetzt bei den Lastwagen Brems- und Spurhalteassistenten. „Corona hat dieser Entwicklung sicher einen Schub gegeben“, sagt Marongiu.
Und das sei auch bitter nötig. Denn die drittgrößte Wirtschaftsbranche in Baden-Württemberg hat ein massives Personalproblem. Auch wenn es der Branche insgesamt gut gehe, „ist die Belastung schon sehr stark und hat bei vielen auch zu Überarbeitung geführt“, sagt Marongiu. Dabei fehle es nicht nur an Lastwagenfahrern, sondern an Personal „im Lager, in der Verwaltung, im Vertrieb – einfach überall“, betont er.
Aber was passiert dann mit den Arbeitskräften, wenn die Maschinen alles regeln? Marongiu ist sich sicher, dass die Jobs in der Branche bleiben werden, „aber sie werden sich verändern“. Weniger analoge, mehr digitale Arbeit. Aus Verbandssicht wäre es ein falsches Signal, die Automatisierung im Güterverkehr mit dem Wegfall einer ganzen Berufsgruppe gleichzusetzen. „Jede große industrielle Revolution hat gezeigt, dass dort, wo Berufe wegbrechen, neue entstehen“, sagt er.
Jetzt sei aber auch die Politik gefragt. Sie müsse mit Investitionen die Automatisierung finanzieren. „Die Hilfe des Staates wird am Anfang nötig sein“, sagt Marongiu. Dann, so glaubt er, wird man schon in absehbarer Zeit automatisierte Prozesse im Güterverkehr sehen. „Technisch sehe ich kein Problem, warum nicht 2040 beispielsweise autonome Lastwagen auf den Autobahnen fahren sollten“, betont er.
Das klingt nicht nach Zukunftsmusik, nicht nach einem Science-FictionFilm. Einen Lastwagen ohne Fahrer zu überholen oder einen Kran ohne Kranführer bei der Arbeit zu beobachten – all das ist gar nicht mehr weit von der Gegenwart entfernt.