Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Bund fordert Kirche zur Aufarbeitung auf
Regierung will nach Missbrauchsgutachten „vollständige Aufklärung“– Justiz prüft 42 Fälle
MÜNCHEN/BERLIN/ULM (dpa/ moe) - Nach der Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens hat die Bundesregierung die katholische Kirche zur umfassenden Aufarbeitung aufgefordert. Eine Regierungssprecherin sagte am Freitag in Berlin, die Studie mache auf „erschütternde Weise“das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs und der Pflichtverletzung kirchlicher Würdenträger deutlich. „Der Missbrauch und der anschließende Umgang mit diesen Taten macht fassungslos. Um so dringender sind nun die vollständige Aufklärung und die umfassende Aufarbeitung“, sagte die Sprecherin von Kanzler Olaf Scholz (SPD). Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) forderte eine konsequente Aufarbeitung. Die Kirche müsse nun für eine schnelle und klare Aufarbeitung sorgen. Strukturen müssten so geändert werden, dass Derartiges künftig verhindert werde. Beim Umgang mit den Tätern müsse „null Toleranz“der Maßstab sein.
Papst Franziskus sprach sich in Rom für eine strenge Anwendung des Kirchenrechts aus: „Die Kirche treibt mit der Hilfe Gottes die Verpflichtung voran, den Opfern von Missbrauch durch unsere Mitglieder gerecht zu werden, indem mit besonderer Aufmerksamkeit und Strenge die vorgesehene kanonische Gesetzgebung angewandt wird“, sagte das Oberhaupt der katholischen Kirche. Ein Sprecher des Bundesjustizministeriums hob allerdings hervor, es handle sich nicht um rein innere Angelegenheiten der Kirche. Wo sich auch heute noch Anhaltspunkte für verfolgbare Taten ergeben, müssten die zuständigen Strafverfolgungsbehörden diese selbstverständlich ermitteln und konsequent verfolgen.
Tatsächlich prüft die Justiz derzeit, ob die Ergebnisse des Gutachtens strafrechtlich relevant sind. Die Staatsanwaltschaft München I untersuche derzeit 42 Fälle von mutmaßlichem Fehlverhalten kirchlicher Verantwortungsträger, erklärte Behördensprecherin Anne Leiding. Die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW), die das Gutachten im Auftrag des Erzbistums München und Freising verfasst hat, habe der Staatsanwaltschaft diese Fälle zur Verfügung gestellt, sagte Leiding.
Von mehreren Seiten wurde am Freitag die Forderung nach einer stärkeren Kontrolle der Kirche laut. „Ich glaube nicht mehr, dass die Kirche allein die Aufarbeitung schafft“, sagte die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, und brachte „einen Ausschuss im Parlament“ins Spiel. Otto Sälzle, der die Interessen der Laien im Diözesanrat der Diözese Rottenburg-Stuttgart vertritt, zeigte sich ebenfalls entsetzt. „Die Kirche ist am Nullpunkt angekommen“, sagte Sälzle der „Schwäbischen Zeitung“. Er forderte die Amtskirche auf, „den Weg für den Reformprozess frei zu machen“.
Das vom Erzbistum selbst in Auftrag gegebene Gutachten wirft den ehemaligen Erzbischöfen Friedrich Wetter und Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., Fehlverhalten in mehreren Fällen vor. Die Autoren des Gutachtens sprechen von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern.