Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Von der Sehnsucht nach dem Echten
Im Bregenzerwald können Büromenschen erleben, was den Reiz der eigenen Hände Arbeit ausmacht und wie das ist, so ganz ohne Handyempfang
Das mit der Entspannung geht schon bei der Anreise los, denn in der Einladung zum Ledergürtel-Nähseminar stehen die Zeilen: „Der Kurs beginnt zwischen zehn und elf. Genieß’ die Anfahrt.“Übersetzt heißt das so viel wie: bloß keinen Termindruck, nur keine Hektik. Tatsächlich ist es ein Genuss, durch den spätsommerlichen Bregenzerwald in Vorarlberg zu gondeln, wo das Laub beginnt, sich von seiner goldenen Seite zu zeigen. Hinter Bizau, wo für viele Menschen bereits das Ende der Welt losgeht, führt eine kleine Mautstraße noch ein bisschen weiter hoch in die Abgeschiedenheit. Als wuchtige Statisten in diesem Schauspiel der alpinen Weitläufigkeit versperren Kühe Teile der Zufahrt. Hupen nützt nichts, ein bisschen Geduld aber schon. Und so kommt der Wagen langsamer als geplant, aber entspannter als gedacht auf dem Parkplatz Schönenbach an.
In der Dorfmitte dampft es feucht-schwül aus einer Käserei heraus. Und überall das Geräusch der Kuhglocken von Rindviechern, die komplett frei herumlaufen. Noch ein kleines Stück weiter in einer Rechtskurve, da steht das uralte Haus Schönenbach 345. Am geöffneten hölzernen Schiebetor lehnt der Hausherr – wilder Vollbart, schlanke Statur – Jodok Dietrich. Später wird er sagen, dass das Gebäude im 17. Jahrhundert erstmals schriftlich erwähnt ist, aber noch älter sein könnte, weil man es vor drei-, vierhundert Jahren nicht so genau genommen hat mit dem Aufschreiben von Sachen. Ninon und Ilu aus Ravensburg sind auch schon da und natürlich Lederkünstler Alexander von Bronewski aus Lindau, der schon seit einiger Zeit oben in der Tenne alles hergerichtet hat für diesen besonderen Tag. Und dann ist da noch Rahel mit ihrer Tochter Zoe, die dem Künstler auch privat verbunden sind.
Taschen, die nicht damit glänzen, was sie alles haben, sondern eher damit, was sie alles nicht haben. Etwa keinerlei Schnickschnack. Minimalismus. Purismus. „Der Charakter kommt durch den Gebrauch.“Dem Leder sei Dank. Lieblingsstücke mit einer Zeitrechnung, die sich besser in Jahrzehnten als in Schlussverkaufszyklen messen lässt. Von Bronewski verlangt für eine große Gloria 950 Euro. Wer sie haben möchte, braucht mindestens sechs Monate Geduld. Die Nachfrage übersteigt das Angebot, denn von Bronewski kann und will sich nicht vierteilen, jedes Stück ist seine persönliche Handarbeit. „Das, was du mit deinen eigenen Händen machen kannst, ist begrenzt.“Damit Raum bleibt für solche Seminare, die auf sechs Teilnehmer beschränkt sind und 250 Euro kosten – inklusive Material und Verpflegung.
Jodok Dietrich hat inzwischen eine Graupensuppe serviert, mit dicken gerösteten Brotscheiben. Als die Uhr frühen Nachmittag anzeigt, sind die Teilnehmer überrascht, wie schnell die Zeit vergangen ist. Die lautlosen Handys – hier oben ohne Empfang – hat bis jetzt niemand vermisst. „Es ist einfach schön, etwas mit den Händen zu machen. Etwas, das bleibt“, sagt Ninon, die sonst als Assistentin einer Geschäftsleitung zwischen Bildschirm und Meetings existiert und kein greifbares Tagwerk im handwerklichen Sinne schafft. Heute schon, und es geht voran: Mittels Schablone bekommt das Gürtelende, an dem die Schließe den Riemen später zusammenhalten wird, entsprechende Anzeichnungen. Mit Stanzeisen und Hammer entstehen Nahtlöcher. Das Ende des Gürtels wird um die metallene Schließe auf einer Länge von etwa acht Zentimetern gefaltet, das aufeinander liegende Leder wird mit massivem Zwirn vernäht. Der eigentliche Akt des Nähens – mit dem sogenannten Sattlerstich – sorgt für angestrengte Stille unter den Teilnehmern. Und