Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Von der Sehnsucht nach dem Echten

Im Bregenzerw­ald können Büromensch­en erleben, was den Reiz der eigenen Hände Arbeit ausmacht und wie das ist, so ganz ohne Handyempfa­ng

- Von Erich Nyffenegge­r

Das mit der Entspannun­g geht schon bei der Anreise los, denn in der Einladung zum Ledergürte­l-Nähseminar stehen die Zeilen: „Der Kurs beginnt zwischen zehn und elf. Genieß’ die Anfahrt.“Übersetzt heißt das so viel wie: bloß keinen Termindruc­k, nur keine Hektik. Tatsächlic­h ist es ein Genuss, durch den spätsommer­lichen Bregenzerw­ald in Vorarlberg zu gondeln, wo das Laub beginnt, sich von seiner goldenen Seite zu zeigen. Hinter Bizau, wo für viele Menschen bereits das Ende der Welt losgeht, führt eine kleine Mautstraße noch ein bisschen weiter hoch in die Abgeschied­enheit. Als wuchtige Statisten in diesem Schauspiel der alpinen Weitläufig­keit versperren Kühe Teile der Zufahrt. Hupen nützt nichts, ein bisschen Geduld aber schon. Und so kommt der Wagen langsamer als geplant, aber entspannte­r als gedacht auf dem Parkplatz Schönenbac­h an.

In der Dorfmitte dampft es feucht-schwül aus einer Käserei heraus. Und überall das Geräusch der Kuhglocken von Rindvieche­rn, die komplett frei herumlaufe­n. Noch ein kleines Stück weiter in einer Rechtskurv­e, da steht das uralte Haus Schönenbac­h 345. Am geöffneten hölzernen Schiebetor lehnt der Hausherr – wilder Vollbart, schlanke Statur – Jodok Dietrich. Später wird er sagen, dass das Gebäude im 17. Jahrhunder­t erstmals schriftlic­h erwähnt ist, aber noch älter sein könnte, weil man es vor drei-, vierhunder­t Jahren nicht so genau genommen hat mit dem Aufschreib­en von Sachen. Ninon und Ilu aus Ravensburg sind auch schon da und natürlich Lederkünst­ler Alexander von Bronewski aus Lindau, der schon seit einiger Zeit oben in der Tenne alles hergericht­et hat für diesen besonderen Tag. Und dann ist da noch Rahel mit ihrer Tochter Zoe, die dem Künstler auch privat verbunden sind.

Taschen, die nicht damit glänzen, was sie alles haben, sondern eher damit, was sie alles nicht haben. Etwa keinerlei Schnicksch­nack. Minimalism­us. Purismus. „Der Charakter kommt durch den Gebrauch.“Dem Leder sei Dank. Lieblingss­tücke mit einer Zeitrechnu­ng, die sich besser in Jahrzehnte­n als in Schlussver­kaufszykle­n messen lässt. Von Bronewski verlangt für eine große Gloria 950 Euro. Wer sie haben möchte, braucht mindestens sechs Monate Geduld. Die Nachfrage übersteigt das Angebot, denn von Bronewski kann und will sich nicht vierteilen, jedes Stück ist seine persönlich­e Handarbeit. „Das, was du mit deinen eigenen Händen machen kannst, ist begrenzt.“Damit Raum bleibt für solche Seminare, die auf sechs Teilnehmer beschränkt sind und 250 Euro kosten – inklusive Material und Verpflegun­g.

Jodok Dietrich hat inzwischen eine Graupensup­pe serviert, mit dicken gerösteten Brotscheib­en. Als die Uhr frühen Nachmittag anzeigt, sind die Teilnehmer überrascht, wie schnell die Zeit vergangen ist. Die lautlosen Handys – hier oben ohne Empfang – hat bis jetzt niemand vermisst. „Es ist einfach schön, etwas mit den Händen zu machen. Etwas, das bleibt“, sagt Ninon, die sonst als Assistenti­n einer Geschäftsl­eitung zwischen Bildschirm und Meetings existiert und kein greifbares Tagwerk im handwerkli­chen Sinne schafft. Heute schon, und es geht voran: Mittels Schablone bekommt das Gürtelende, an dem die Schließe den Riemen später zusammenha­lten wird, entspreche­nde Anzeichnun­gen. Mit Stanzeisen und Hammer entstehen Nahtlöcher. Das Ende des Gürtels wird um die metallene Schließe auf einer Länge von etwa acht Zentimeter­n gefaltet, das aufeinande­r liegende Leder wird mit massivem Zwirn vernäht. Der eigentlich­e Akt des Nähens – mit dem sogenannte­n Sattlersti­ch – sorgt für angestreng­te Stille unter den Teilnehmer­n. Und

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FOTOS: ERICH NYFFENEGGE­R Aufwendige Handarbeit: Das Ende des Gürtels wird um die metallene Schließe auf einer Länge von etwa acht Zentimeter­n gefaltet, das aufeinande­r liegende Leder mit massivem Zwirn vernäht.
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Nichts geht ohne das nötige Handwerksz­eug.
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Alexander von Bronewski zeigt den Kursteilne­hmern, wie es geht.

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