Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Auf dem Boden der Realität
Berno Müller ist seit neun Jahren Arzt bei der Vesperkirche – aus Überzeugung
- Berno Müller ist ein unkomplizierter Gesprächspartner. Grüner Kapuzenpulli, Cordhose, Turnschuhe. Nur das Stethoskop, das er sich locker um den Hals gehängt hat, verrät ansatzweise, mit wem man es zu tun hat. Berno Müller ist von Beruf Arzt. Zwar praktiziert der 50-Jährige seit Jahren nicht mehr, arbeitet als ärztlicher Direktor in der Pharmaindustrie, und dennoch sind die drei Wochen Vesperkirche jedes Jahr fester Bestandteil in seinem Terminkalender – und das seit neun Jahren.
Natürlich sind das keine Sprechstunden wie bei einem Haus- oder Facharzt. Die offizielle Bezeichnung ist „hausärztliche Präsenz“. Und die wird gut genutzt, wie Müller sagt. Man fragt sich allerdings, weshalb das Angebot überhaupt existiert, schließlich könnte man meinen, in diesem Land könne sich jeder eine ärztliche Behandlung leisten, sei durch das Gesundheitssystem aufgefangen.
Doch um eine ärztliche Behandlung gehe es weniger. Klar würden die Menschen die hausärztliche Präsenz während der Vesperkirche wegen medizinischer Fragen in Anspruch nehmen, vor allem auch wegen einer Zweitmeinung. Doch die meisten wollen einfach nur, dass ihnen jemand zuhört. Ursprünglich sei diese einmal die Aufgabe des Hausarztes gewesen.„Doch das kann in diesem Umfang inzwischen aber kein Hausarzt mehr leisten“, sagt Müller. „Dafür ist kein Geld da. Verbalmedizin wird nicht bezahlt.“Müller hält das für einen Fehler, denn gerade das Gespräch über die eigene Krankheit, um das eigene Leiden besser zu verstehen, habe einen Heilungseffekt. „Da bin ich mir absolut sicher“, sagt Müller.
Und für manche ist es eine Gelegenheit, um überhaupt mal wieder mit jemandem zu sprechen. „Ich hatte heute eine 93 Jahre alte Frau hier bei mir, die in Tschechien geboren wurde“, erzählt Müller. „Ich war dort oft beruflich und wir haben eine halbe Stunde lang über Tschechien geredet.“Besser könnte er das diesjährige Motto der Vesperkirche „Nähe leben“nicht interpretieren.
Zuhören, präsent sein. Mehr sei nicht zu tun. Für Müller, der vom Charakter her ein Macher ist und der Geduld nicht zu seinen ausgeprägtesten Eigenschaften zählt, wie er mit einem Schmunzeln zugibt, ist das nicht einfach. „Aber es tut so verdammt gut“, sagt er. „Die Vesperkirche bringt dich auf den untersten, den nackten Boden der Realität. Da nimmst du mal wahr, was das Problem desjenigen ist, der dir gegenübersitzt, der tatsächlich ein Problem hat. Das macht mich dankbar und demütig.“Demütig und dankbar gegenüber dem Glück des eigenen Lebens. „Mir geht es verdammt gut, also gebe ich etwas davon ab“, sagt Müller. Eine Einstellung, die in seiner Familie schon immer gelebt wurde. Seinen Vornamen „Berno“habe er von seinem Onkel, dem in der Region bekannten Pater Berno. Nach der Wende habe Pater Berno in den 90er-Jahren die Leitung eines Klosters in Rumänien übernommen. „Da haben wir als Familie viel geholfen“, sagt Müller.
Sein Blick richtet sich aber nicht allein auf das eigene Glück und die Chance, zu helfen. Die Vesperkirche relativiere auch den Blick auf den eigenen Job als medizinischer Direktor. „Vorher denke ich jedes Mal, was ich alles auf dem Tisch habe, und dass ich überhaupt keine Lust dazu habe. Und dann gehe ich doch, tue zwei, drei Stunden lang nichts, höre nur zu und bin präsent. Diese Entschleunigung tut brutal gut“, sagt Müller, „Ich sehe, es geht auch ohne mich. Und wenn ich zurückkomme, sehe ich Management-Gespräche mit anderen Augen. Nimm alles nicht so ernst, es gibt wichtigere Dinge im Leben.“
Schade sei nur, dass bei der Vesperkirche so wenige mitmachten, die in Müllers Alter sind. Da werde immer viel über Work-Life-Balance geredet, die Entscheidung dafür immer vor sich her geschoben. Was bedeute aber „Lebensqualität“?
„Mach doch einfach mal mit!“, sagt Müller. „Das hier ist Work-Life-Balance pur!“Das könne jeder. „Wir haben die Macht über unser Leben“, sagt Müller. Klar, könne man das nicht immer durchhalten, das gebe er zu. Die Vesperkirche könne aber ein Anker sein, um das Positive im Leben zu sehen. „Uns geht es so gut wie nie, aber die Unzufriedenheit hat in den vergangenen Jahren zugenommen“, stellt er fest. „Ich kann das nicht nachvollziehen.“
Müller blickt auf die Uhr. Gleich habe er eine wichtige Telefonkonferenz mit Global Playern. Das wird ihn wieder in seinen Alltag bringen, doch er wird dieses Gespräch sicherlich mit anderen Augen sehen. Und es würde auch sicherlich ohne ihn gehen.
Alle Geschichten rund um die Weingartener Vesperkirche gibt es unter www.schwäbische.de/ vesperkirche