Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Adieu Atomkraft
Bald wird der älteste Meiler in Frankreich abgeschaltet – Die deutschen Nachbarn sind erleichtert, das Dorf Fessenheim sucht noch nach Alternativen
- Das Transparent, das am Zaun vor dem Eingang hängt, wirkt wie ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit. „Fessenheim ist sicher. Möge es weiter bestehen“, steht in verblichener roter Schrift auf weißem Grund. Die Forderung ist längst überholt, denn das älteste französische Atomkraftwerk läuft nur noch wenige Wochen. Block eins wird am 22. Februar abgeschaltet, Block zwei am 30. Juni. Endzeitstimmung also in dem grauen, quaderförmigen Gebäude mit dem Symbol des Betreibers EDF an der Fassade? „Die Stimmung ist erstaunlich normal“, sagt Anne Laszlo, die als Betriebsrätin der Gewerkschaft CFE ein Büro im Atomkraftwerk hat. Für sie und die Hunderte Angestellten, die noch immer jeden Tag durch das grüne Tor gehen, ist die „Centrale nucléaire“mehr als nur ein Arbeitsplatz: „Es ist auch eine Gefühlssache.“
Das liegt wohl auch daran, dass es in der 2400-Einwohner-Gemeinde Fessenheim, nur rund 30 Kilometer von Freiburg entfernt, außer dem Atomkraftwerk nicht viel gibt. Rings um den Ort erstrecken sich abgeerntete Maisfelder. Die Kolben werden ordentlich in Gittersilos getrocknet, die wie riesige Bauklötze aussehen. „Wir sind eine arme Gegend“, sagt Bürgermeister Claude Brender in seinem Büro im ersten Stock des Rathauses. „Nicht so wie die Weindörfer“, ergänzt er und zeigt vage hinter sich. Gemeint sind elsässische Orte wie Riquewihr oder Kaysersberg, eine dreiviertel Stunde mit dem Auto entfernt, die jeden Tag Horden von Touristen anziehen. Nach Fessenheim, drei Kilometer hinter der deutsch-französischen Grenze, verirrt sich dagegen kaum jemand. Die Straßen sind menschenleer, nur vor dem Supermarkt Super U am Ortseingang ist der Parkplatz voll.
200 Familien lebten dem Bürgermeister zufolge allein in Fessenheim bisher von der Arbeit im Atomkraftwerk, das 1978 eingeweiht wurde. Brender kann sich gut an den Tag erinnern: Er war damals 19 Jahre alt. „Hier ist keiner gegen Atomkraft“, sagt er bitter. „Die Gegner kommen von der anderen Seite der Grenze.“Seit 1989 sitzt der Lokalpolitiker im Gemeinderat, seit 2014 ist er Bürgermeister. Und das will er auch nach der Kommunalwahl im März bleiben. „Ich bin nicht nur für die guten Zeiten da.“
Die guten Zeiten haben in Fessenheim ihre Spuren hinterlassen. Zu sehen sind sie an der Hauptstraße, der Rue de la Libération, wo die Mediathek steht, die in einem ehemaligen Bauernhaus eingerichtet wurde. Oder die Feuerwehr, die einen frischen, roten Anstrich trägt. Mit dem Atomkraftwerk flossen auch satte Steuergelder in die Gemeindekasse. Doch damit ist es bald vorbei. Wenn die beiden Reaktoren abgeschaltet sind und nur noch eine Handvoll Angestellter sich um den Rückbau kümmert, dürfte die Gemeinde in ihren Dornröschenschlaf zurückfallen. Bisher gibt es nämlich kein Projekt, das die 2000 Arbeitsplätze ersetzen kann, die das Atomkraftwerk in seinen besten Zeiten bot. Der Autobauer Tesla zog für sein neues Werk Brandenburg dem Elsass vor, und ein deutsch-französischer Industriepark, der nördlich von Fessenheim entstehen soll, ist noch reine Zukunftsmusik. Ein Recyclingzentrum für verstrahltes Metall aus stillgelegten Atomkraftwerken, das EDF vorschlug, könnte am Desinteresse der deutschen Seite scheitern. „Es macht uns wütend, dass die deutschen Nachbarn sich dagegen wehren,“empört sich Betriebsrätin Anne Laszlo, die in Deutschland studiert hat und fließend Deutsch spricht. Doch beim Thema Atomkraft hört für sie die Freundschaft auf. Vor allem die Grünen, die in Baden-Württemberg regieren, sind gegen das „Technocentre“. „Die
Umwandlung in einen Akw-Recyclinghof an diesem Standort ist irrsinnig: lange Transportwege setzen die Bevölkerung einem völlig unangemessenen Risiko aus“, kritisiert die Karlsruher Grünen-Abgeordnete Sylvia Kotting-Uhl, Vorsitzende des Umweltausschusses des Bundestags.
Auch der Elsässer André Hatz zieht gegen das Projekt „Technocentre“zu Felde. „Das ist eine Art, die Radioaktivität zu banalisieren“, kritisiert der Vorsitzende der Organisation „Stop Fessenheim“. Der 72-Jährige mit dem weißen Bart kämpft seit mehr als 40 Jahren gegen das Atomkraftwerk. Bei den ersten großen Demonstrationen Mitte der 1970er-Jahre, als sich mehr als zehntausend Menschen auf der grünen Wiese versammelten, war er bereits dabei. Aus seinem Rucksack zieht der pensionierte Ingenieur einen Plastikordner mit Karten und Grafiken, die die Gefahr eines Unfalls auch für die deutsche Bevölkerung zeigen. Etwa, wenn ein Dammbruch nach einem Erdbeben am Oberrheingraben das Kraftwerk überflutet. Eine Gefahr, auf die auch der europäische Stresstest
nach der Katastrophe von Fukushima hinwies.
„Ich bin nicht jeden Morgen mit einem Gefühl der Angst im Bauch aufgewacht“, gesteht Hatz. Doch wenn der störanfällige Meiler nun endlich schließt, sind er und seine Mitstreiter diesseits und jenseits des Rheins erleichtert – auch wenn bis 2023 noch hoch radioaktiver Brennstoff in Fessenheim lagert. Jahrelang hatten die baden-württembergische Regierung, aber auch die Schweiz, die Abschaltung gefordert. „In Frankreich ist Atomkraft fast eine Religion“, sagt Hatz. Das Land war lange stolz auf seine 58 Atomreaktoren, die die Franzosen mit billigem Strom versorgten. Egal von welcher Partei der Präsident kam: An der Atomenergie wurde nicht gerüttelt. Der staatliche Stromkonzern EDF gehörte zu den Vorzeigeunternehmen, mit denen Frankreich im Ausland hausieren ging. Bis sich ausgerechnet beim modernen Druckwasserreaktor EPR in Flamanville am Ärmelkanal die Grenzen der Atomtechnologie zeigten.
Eine Panne reihte sich an die nächste, sodass der Eröffnungstermin von 2012 auf 2022 verschoben wurde. Ein Industriefiasko, das den Steuerzahler bisher 12,4 Milliarden Euro kostet. Dabei sollte Flamanville so etwas wie der jüngere Bruder von Fessenheim sein, dessen Schließung der sozialistische Präsident François Hollande eigentlich für 2017 versprochen hatte. Als klar war, dass das Datum nicht zu halten war, verknüpfte seine Umweltministerin Ségolène Royal die Abschaltung mit der Inbetriebnahme des EPR in Flamanville. Erst Hollandes Nachfolger Emmanuel Macron löste die Verbindung auf und versprach, Fessenheim 2020 zu schließen – egal, wie sich der EPR entwickelt.
Gleichzeitig kündigte Macron an, den Atomstromanteil von derzeit gut 70 Prozent bis 2035 auf 50 Prozent zu senken. Zwölf weitere Reaktoren sollen bis dahin vom Netz genommen werden. Von einer Energiewende wie in Deutschland wollen Experten allerdings nicht sprechen. „Es wird schwierig, nur alte Atomkraftwerke abzuschalten, wenn nicht massiv in den Ausbau erneuerbarer Energien gesetzt wird“, sagt Heinz Smital von Greenpeace. Dass tatsächlich, wie von EDF angekündigt, sechs neue EPRReaktoren gebaut werden, glaubt Smital allerdings auch nicht. „Der EPR wird noch viele Probleme machen und gleichzeitig werden die erneuerbaren Energien billiger werden. Ich kann mir nicht denken, dass die Atomkraft noch einmal Morgenluft bekommen wird.“In Fessenheim ist sie auf alle Fälle ab 30. Juni Vergangenheit.
„Wir sind eine arme Gegend.“
Claude Brender, Bürgermeister der elsässischen Gemeinde Fessenheim
„In Frankreich ist Atomkraft fast eine Religion.“
André Hatz kämpft schon seit Jahrzehnten gegen das Kraftwerk Fessenheim