Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Die Einweg-Erfolgsgeschichte
Seit 90 Jahren hilft Tempo in vielen Lebenslagen – und verkauft sich milliardenfach
BONN (KNA) - Erstaunlich, dass aus diesem Stoff nicht schon längst ein deutscher Fernsehzweiteiler wurde. Denn in ihn verwebt ist die wechselvolle Tragödie des frühen 20. Jahrhunderts. Doch als alles begann, bestand dieser Stoff zunächst einmal aus nichts als Papier. Er entstammte einer genialen Geschäftsidee.
Oskar Rosenfelder, Mitinhaber der Vereinigten Papierwerke Nürnberg, meldete am 29. Januar 1929 beim Reichspatentamt in Berlin das erste deutsche Papiertaschentuch an. Am 18. September desselben Jahres wurde es als Warenzeichen eingetragen. Den Nerv der Zeit hätte der jüdische Unternehmer Ende der 20er-Jahre nicht besser treffen können, als er seinem Produkt den Namen „Tempo“gab. Zwei Jahrzehnte zuvor, 1909, hatte der italienische Futurismus in seinem Manifest die „Schönheit der Geschwindigkeit“beschworen.
Seitdem beschleunigte sich die Moderne rasant, der Rennwagen wurde zu ihrer Ikone. In Berlin zeigte sich die neue Beschleunigung der Weimarer Republik besonders deutlich. Der englische Autor Harold Nicholson schrieb in seinem Buch „Charme of Berlin“im selben Jahr, als das Tempo-Taschentuch seinen Siegeszug antrat: „Keine Stadt ist so ruhelos wie Berlin. Alles ist in Bewegung. Die Verkehrsampeln wechseln unaufhörlich von rot auf gelb und dann auf grün.“
Der Nachfrage nach dem Einwegtaschentuch, das so sehr den Geist der Zeit widerspiegelt, kam die Produktionstechnik kaum nach. Bis 1933 wurde es in Heimarbeit und später von Wohlfahrtswerkstätten in Nürnberg gefaltet. Dank immer modernerer Fertigungsmaschinen konnte die Produktion im Jahr 1935 auf 150 Millionen Stück gesteigert werden. Zu diesem Zeitpunkt waren die Brüder Oskar und Emil, nachdem sie nach England emigriert waren, letztlich schon enteignet. Beim Entrechtungsprozess arbeiteten Justiz, Wirtschaft und die Deutsche Bank Hand in Hand; der Gründer des QuelleKaufhauses, Gustav Schickedanz, gelangte in den Besitz des Unternehmens, nachdem das inländische Vermögen der Besitzer beschlagnahmt worden war.
1939 lag der Absatz verkaufter Exemplare bei 400 Millionen. 1955 waren es schon eine Milliarde – 2004 bereits 20 Milliarden. Es wechselten Packungsgrößen und Verschlüsse, der markante weiße, geschwungene Schriftzug auf dunkelblauen Grund wurde in den 50er-Jahren ein letztes Mal verändert, trotz wechselnder Hersteller. Schickedanz verkaufte an Procter und Gamble, der stieß es an den schwedischen Konzern SCA ab, der schon die Konkurrenzmarken produzierte.
Tempo hat geschafft, was sonst nur wenigen Produkten gelang – wie Tesa-Film, Uhu-Kleber, Knirps oder Tupperware: Sie wurden zu Deonymen, ihre Markennamen setzten sich als allgemeinen Bezeichnung für die ganze Warengattung durch. Fünf Jahre vor Tempo war dies schon seinem amerikanischer Vorläufer Kleenex gelungen. Das Resultat: mehr Hygiene, allerdings auch mehr Müll. Wobei beim Tempotuch das Hygieneargument schnell nach hinten losgeht: Unsachgemäß entsorgte Taschentücher gelten als Virenschleudern erster Güte.
Mit dem Stofftaschentuch, das durch die Einwegtaschentücher in die Schubladen der Kommoden verbannt wurde, verschwand auch ein poetischer Code, den das Schnupftuch der Damen und Herren im romantischen Spiel der Geschlechter belegte: Es war ein Signalfähnchen, mit dem man sich Zeichen gab. Das kunstvoll bestickte und mit Monogramm versehene Taschentuch, das der Herr der weinenden Dame reichte, gehörte zur Grundausstattung der Galanterie. Man stelle sich vor, eine Frau würde vor der Oper ein Tempotaschentuch fallen lassen! Es würde sich sicher kein Galan finden, der es aufhebt, sich verbeugt und es ihr reicht.
Aber dem Papiertaschentuch diesen Kulturverlust anzukreiden, ist unfair. Sage auch keiner, es gäbe keine stofflichen Verfeinerungen in diesem Segment: Das Tempo zerfällt heute in der Waschmaschine nicht mehr zu lästigen Flusen, die überall anhaften. Man kann es getrost mitwaschen und fischt danach nur eine styroporartige Kugel aus der Hosentasche. Inzwischen ist es vierlagig. Das hat zur Folge, dass immer weniger Papiertaschentücher in eine Packung passen. Am Anfang waren 18 Stück drin, heute sieben. Wohin sich die Packungsgröße entwickelt? Tempo steht für einen Mythos der Moderne: die Geschwindigkeit. Auch in rasanten Zeiten wie diesen bleibt das Einmaltuch also gefragt.