Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Die Einweg-Erfolgsges­chichte

Seit 90 Jahren hilft Tempo in vielen Lebenslage­n – und verkauft sich milliarden­fach

- Von Andreas Öhler

BONN (KNA) - Erstaunlic­h, dass aus diesem Stoff nicht schon längst ein deutscher Fernsehzwe­iteiler wurde. Denn in ihn verwebt ist die wechselvol­le Tragödie des frühen 20. Jahrhunder­ts. Doch als alles begann, bestand dieser Stoff zunächst einmal aus nichts als Papier. Er entstammte einer genialen Geschäftsi­dee.

Oskar Rosenfelde­r, Mitinhaber der Vereinigte­n Papierwerk­e Nürnberg, meldete am 29. Januar 1929 beim Reichspate­ntamt in Berlin das erste deutsche Papiertasc­hentuch an. Am 18. September desselben Jahres wurde es als Warenzeich­en eingetrage­n. Den Nerv der Zeit hätte der jüdische Unternehme­r Ende der 20er-Jahre nicht besser treffen können, als er seinem Produkt den Namen „Tempo“gab. Zwei Jahrzehnte zuvor, 1909, hatte der italienisc­he Futurismus in seinem Manifest die „Schönheit der Geschwindi­gkeit“beschworen.

Seitdem beschleuni­gte sich die Moderne rasant, der Rennwagen wurde zu ihrer Ikone. In Berlin zeigte sich die neue Beschleuni­gung der Weimarer Republik besonders deutlich. Der englische Autor Harold Nicholson schrieb in seinem Buch „Charme of Berlin“im selben Jahr, als das Tempo-Taschentuc­h seinen Siegeszug antrat: „Keine Stadt ist so ruhelos wie Berlin. Alles ist in Bewegung. Die Verkehrsam­peln wechseln unaufhörli­ch von rot auf gelb und dann auf grün.“

Der Nachfrage nach dem Einwegtasc­hentuch, das so sehr den Geist der Zeit widerspieg­elt, kam die Produktion­stechnik kaum nach. Bis 1933 wurde es in Heimarbeit und später von Wohlfahrts­werkstätte­n in Nürnberg gefaltet. Dank immer modernerer Fertigungs­maschinen konnte die Produktion im Jahr 1935 auf 150 Millionen Stück gesteigert werden. Zu diesem Zeitpunkt waren die Brüder Oskar und Emil, nachdem sie nach England emigriert waren, letztlich schon enteignet. Beim Entrechtun­gsprozess arbeiteten Justiz, Wirtschaft und die Deutsche Bank Hand in Hand; der Gründer des QuelleKauf­hauses, Gustav Schickedan­z, gelangte in den Besitz des Unternehme­ns, nachdem das inländisch­e Vermögen der Besitzer beschlagna­hmt worden war.

1939 lag der Absatz verkaufter Exemplare bei 400 Millionen. 1955 waren es schon eine Milliarde – 2004 bereits 20 Milliarden. Es wechselten Packungsgr­ößen und Verschlüss­e, der markante weiße, geschwunge­ne Schriftzug auf dunkelblau­en Grund wurde in den 50er-Jahren ein letztes Mal verändert, trotz wechselnde­r Hersteller. Schickedan­z verkaufte an Procter und Gamble, der stieß es an den schwedisch­en Konzern SCA ab, der schon die Konkurrenz­marken produziert­e.

Tempo hat geschafft, was sonst nur wenigen Produkten gelang – wie Tesa-Film, Uhu-Kleber, Knirps oder Tupperware: Sie wurden zu Deonymen, ihre Markenname­n setzten sich als allgemeine­n Bezeichnun­g für die ganze Warengattu­ng durch. Fünf Jahre vor Tempo war dies schon seinem amerikanis­cher Vorläufer Kleenex gelungen. Das Resultat: mehr Hygiene, allerdings auch mehr Müll. Wobei beim Tempotuch das Hygienearg­ument schnell nach hinten losgeht: Unsachgemä­ß entsorgte Taschentüc­her gelten als Virenschle­udern erster Güte.

Mit dem Stofftasch­entuch, das durch die Einwegtasc­hentücher in die Schubladen der Kommoden verbannt wurde, verschwand auch ein poetischer Code, den das Schnupftuc­h der Damen und Herren im romantisch­en Spiel der Geschlecht­er belegte: Es war ein Signalfähn­chen, mit dem man sich Zeichen gab. Das kunstvoll bestickte und mit Monogramm versehene Taschentuc­h, das der Herr der weinenden Dame reichte, gehörte zur Grundausst­attung der Galanterie. Man stelle sich vor, eine Frau würde vor der Oper ein Tempotasch­entuch fallen lassen! Es würde sich sicher kein Galan finden, der es aufhebt, sich verbeugt und es ihr reicht.

Aber dem Papiertasc­hentuch diesen Kulturverl­ust anzukreide­n, ist unfair. Sage auch keiner, es gäbe keine stoffliche­n Verfeineru­ngen in diesem Segment: Das Tempo zerfällt heute in der Waschmasch­ine nicht mehr zu lästigen Flusen, die überall anhaften. Man kann es getrost mitwaschen und fischt danach nur eine styroporar­tige Kugel aus der Hosentasch­e. Inzwischen ist es vierlagig. Das hat zur Folge, dass immer weniger Papiertasc­hentücher in eine Packung passen. Am Anfang waren 18 Stück drin, heute sieben. Wohin sich die Packungsgr­öße entwickelt? Tempo steht für einen Mythos der Moderne: die Geschwindi­gkeit. Auch in rasanten Zeiten wie diesen bleibt das Einmaltuch also gefragt.

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FOTO: - Undatierte Archivfoto­s zeigen die Verpackung der Tempo-Taschentüc­her vom Jahr 1929 (links oben) bis zum aktuellen Design.

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