Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Alles muss anders bleiben
Der Jahreswechsel und seine Bedeutung für die innere Neuordnung
Neujahrsnacht still und klar deutet auf ein gutes Jahr. Bauernregel Ein neues Buch, ein neues Jahr Was werden die Tage bringen? Wird’s werden, wie’s immer war Halb scheitern, halb gelingen? Theodor Fontane, (1819 - 1898) deutscher Dichter
Okay, das Thema ist so alt wie die Printbranche. Feuilletons und bunte Seiten beschäftigen sich alle Jahre wieder mit dem großen PiffPaff und seinem tieferen Sinn in der Silvesternacht. Kann sein, dass ich selbst schon gelegentlich über das Scheitern unserer Vorsätze geschrieben habe. Alles dreht sich wie blöde im Kreis, ich weiß. Aber: Wir wollen es gar nicht anders! Der Mensch braucht verlässliche Programme, und deshalb läuft am 31. Dezember wie immer auf allen Kanälen „Dinner for One“, der bewährte Sketch mit
Miss Sophie und ihrem betrunkenen Butler James: „Same procedure as every year ...“Na dann cheers, Ladies and Gentlemen! Die Wiederholung vertrauter Rituale gibt uns innere Sicherheit.
Manche Zahlen können einem die Laune verderben. Feuerwerk für 137 Millionen Euro verpulvern allein die Deutschen. Das ist ein Wahnsinn. Aber wie herrlich sprüht der Goldregen vor unserem Haus! Wie prächtig prangen die Blüten des Augenblicks am nächtlichen Himmel! Und so werden wir es wieder krachen lassen – oder feinsinnig dagegen sein und mit dem lärmempfindlichen Hund eine stille Ecke aufsuchen. Eins steht fest: Keiner entgeht der gewissen Magie des neuen Jahres: „Zwischen dem Alten, / Zwischen dem Neuen / Hier uns zu freuen / Schenkt uns das Glück ...“, meinte schon unser aller Goethe in einem seiner minder begnadeten Gedichte. Das Thema Silvester macht alle ein bisschen sentimental.
Dabei ist die Festsetzung des Jahreswechsels vom 31. Dezember auf den 1. Januar ganz und gar willkürlich, das muss mal bemerkt werden. Bei den alten Römern galt der 1. März noch als Jahresbeginn und passte recht nett zum aufkeimenden Frühling – bis Julius Caesar im Jahr 45 vor Christi Geburt den Kalender reformierte und die letzten Wintermonate Ianuarius und Februarius an den Anfang des Jahres setzte, zeitgleich mit dem Amtsantritt der Magistrate. Römischer Pragmatismus prägte die Welt. Der julianische Kalender mit seinen 365,25 Tagen war allerdings um etwa elf Minuten länger als das natürliche Sonnenjahr, weshalb sich die Jahreszeiten und die Schlüsseldaten ganz allmählich verschoben, was durch die von Papst Gregor XIII. anno 1582 „Inter gravissimas“verordnete Kalenderreform und durch einmaliges Streichen etlicher Oktobertage korrigiert wurde. 365,2425 Tage hatte fortan das mittlere Kalenderjahr. Schaltjahre gleichen die Ungenauigkeiten aus, aber wer will das schon genau wissen?
Die Umstellung von der alten auf die neue Zeitrechnung fiel manchen Bergmenschen jedenfalls so schwer, dass sie den julianischen Kalender nicht vergessen haben. Bis heute feiert das Appenzeller Hinterland gleich zweimal Neujahr, und die imponierend vermummten Silvesterchläuse mit ihren Kuhglocken ziehen am 31. Dezember und am 13. Januar, dem „Alten Silvester“, in sogenannten Schuppeln (Gruppen) mit schweren Schritten von Tür zu Tür, schellend und zauend (wobei es sich um eine sehr spezielle Art des Jodelns handelt). Von solch urigen und zugleich ordentlichen Bräuchen kennt man nichts in meiner rheinischen Heimat. Dafür wird am Ufer des Stromes so hemmungslos gezecht und gezündelt, dass wir gebührenden Abstand von den Stränden halten. Aber krachen soll es doch. Die absolut stille Silvesternacht, die wir mal in Paris, wo das Feuerwerk komplett verboten ist, erlebt haben, hinterließ eine gewisse Frustration.
Tatsächlich erzeugen wir mit dem Countdown um Mitternacht und der anschließenden Anwendung von Pyrotechnik ein Hochgefühl, das sich nicht unbedingt von selbst einstellt. Der Ballast der Vergangenheit wird gewissermaßen in die Luft geschossen, wir schließen mit einer Zeitspanne ab. In Ecuador, habe ich gelesen, basteln die
Leute riesige Puppen aus alter, mit Sägemehl und Papier ausgestopfter Kleidung. Diese „monigotes“(Hampelmänner) sind Symbole für alles Schlechte, Bedrückende, Unerledigte, das man hinter sich lässt, und sie dürfen auch noch verprügelt werden, ehe man sie zum Jahreswechsel um Mitternacht verbrennt. Ein Brauch, der an die Funkenfeuer zwischen Fasnet und Ostern erinnert.
Aber bis dahin wird schon wieder so viel passiert sein. Nur jetzt, zu Silvester, öffnet sich ein verheißungsvoll leerer Raum – das neue Jahr, noch nicht geprägt durch Pleiten, Pech und Pannen, dafür voller Möglichkeiten. Wir können nicht wissen, was es bringt, aber wir dürfen Wünsche haben und uns sogar das Wunderbare vorstellen. Zweifel und Ängste werden verdrängt. „Neujahrsmorgen. Heut / darf mir nicht das mindeste / Böse in den Sinn!“las ich neulich in einer Sammlung japanischer Kurzgedichte.
Wenn die Chinesen am 4./5. Februar ihr Neujahrsfest feiern und vom Jahr des Hundes ins Jahr des fröhlichen Schweins wechseln, werden sie Fenster und Türen öffnen, um das Glück hereinzulassen. Helle Lichter schrecken die bösen Geister ab. Auch wir Europäer haben so unsere Spielchen, um die unberechenbare Zukunft zu beschwören. Die Spanier schieben sich um Mitternacht bei jedem Glockenschlag eine Glücksweintraube in den Mund und dürfen sich nicht verschlucken. Die Italiener tragen rote Unterwäsche, um Glück und Liebe anzulocken. Wir Deutschen versuchen beim Bleigießen, das in diesem Jahr dank EU-Bestimmung durch das ökologisch einwandfreie Wachsgießen ersetzt wird, nur das Beste aus den verkrumpelten Formen herauszulesen, die wir gegen zwei Uhr morgens aus der Wasserschüssel fischen. Auf der Packung steht die mögliche Deutung. Ist es ein Hammer? „Dein Wille versetzt Berge.“Ist es ein Baum? „Du wirst deinen Weg gehen.“
Das klingt erfreulich. Und vielleicht setzt so ein Spruch tatsächlich die zum sinnvollen Handeln nötige Zuversicht frei. Womit wir bei einem sehr heiklen Thema wären: den guten Vorsätzen. Man versucht es ja immer wieder, endlich schlank, sportlich und ehrgeizig zu werden. Nach Neujahr herrscht erfahrungsgemäß ein größerer Betrieb in den Fitnessstudios. Zahlreiche Probetrainings werden absolviert. Doch nach dem ersten Muskelkater lässt der Eifer wieder nach. Denn Vorsätze, die zu Silvester spontan aus dem Gefühl eines Defizits entstehen, sind in der Regel nicht sehr stabil. Ich habe einfach aufgehört, wie früher ambitionierte Listen mit Vorsätzen zu schreiben. Was diesen Plänen fehlt, ist echte Begeisterung, die aus der Lust kommt.
„Vorsatz und Begierde“, stellte schon Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik fest, „stehen zueinander im Gegensatz.“Wie wahr! Wäre nicht die Begierde, dieser Störenfried, würde ich jetzt artig in ein Äpfelchen beißen und nicht den Küchenschrank nach übrig gebliebenen Lebkuchen durchsuchen. Nun, die müssen ja weg. Überhaupt liebe ich es, schon am Neujahrstag oder spätestens am 2. Januar nicht nur die Luftschlangen von Silvester, sondern auch die überschwänglichen Dekorationen des Weihnachtsfestes wegzuräumen. Die Heiligen Drei Könige, die ja bekanntlich erst am 6. Januar kommen, mögen mir verzeihen. Die Krippe ist dann schon eingepackt, genau wie die goldenen Kugeln.
Raus mit dem Tannenbaum und dem vertrockneten Kranz! Die Sammlung klassischer Weihnachtsmannfiguren verschwindet vom Fensterbrett. Und sogar der lauschige Leuchtbogen aus dem Erzgebirge muss weichen. Die Tage werden schon wieder ein bisschen länger, ich will in ihr nüchternes Licht sehen. Ich brauche jetzt die ersten Tulpensträuße und eine Ahnung vom Frühling. Natürlich wird sich der Winter noch hinziehen mit seinem Glatteis und seinen Erkältungen, aber bald schon, versprochen, blühen im Garten die ersten Schneeglöckchen. Ein glückliches neues Jahr!