Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Der Erste Weltkrieg war schon 1912 verloren
Holger Afflerbach rückt Sieger und Besiegte in ihrer Verantwortung für den Ersten Weltkrieg zusammen
Der Titel des Buches „Auf Messers Schneide. Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor“ist auf das Kriegsende 1918 zugeschnitten. Ja, das ist geschicktes Marketing, aber in der Sache irreführend. Man wüsste nach Lektüre des Buches nicht, wann der Krieg auf Messers Schneide gestanden haben soll. Eher umgekehrt: der Ausgang war lange diffus. Und ebensowenig schreibt der im englischen Leeds lehrende Historiker Holger Afflerbach auf das Kriegsende hin. Auch hier gilt: eher umgekehrt. Erst wenn man das Buch als Beitrag zur Diskussion um den Weltkrieg insgesamt liest, werden seine Verdienste deutlich.
Ein Buch über die Aufarbeitung
Es kommt zunächst konventionell daher: Als Geschichte aus deutscher Sicht, die Konzepte, Blickwinkel und Begrenztheiten der Akteure diskutiert. Aber es erschöpft sich darin nicht. Es ist zugleich ein Buch zur Geschichte der Geschichtswissenschaft und ihrer Aufarbeitung des Ersten Weltkriegs. Also darüber, welche Forschungsansätze unsere Vorstellungen über diese Zeit heute prägen. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in England, das der Autor ebenso vor Augen hat. Es geht also, das Wort fällt unvermeidlich, um „Narrative“.
Erst in diesem Zusammenhang wird das Buch aktuell. Inzwischen ist es eher mutig als selbstverständlich, etablierte Narrative zu hinterfragen. Aber da gibt es schließlich ein berühmtes Vorbild: Fritz Fischers Buch „Griff nach der Weltmacht“rief 1961 eine erregte und meinungspolitisch prägende Debatte in der Bundesrepublik hervor, die „Fischer-Kontroverse“. Fischer hatte, als die Ansicht üblich war, die Großmächte seien in den Krieg hineingeschlittert, die Verantwortung des Deutschen Reiches hervorgehoben, die prägende Kraft von Grossmachtbestrebungen in der Kaiserzeit. Afflerbach kommt auf diese Debatte zurück, auf Fischer wie auf Gerhard Ritter, der damals vehement widersprach. Beide Positionen sind für ihn „exzellente Forschungsleistungen“. Während Fischer dann zur „Standardinterpretation“für die deutsche Politik von 1914 wurde und „vor allem in der angelsächsischen Literatur das dominante Narrativ ist, ist Ritters Werk weitgehend vergessen“.
Afflerbach unterzieht also die Debatte nach 60 Jahren einer Revision. Er tut es aufgrund der weiteren Forschung, die davon angestoßen wurde. Wichtig für ihn wird vor allem die Gesellschaftsgeschichte Hans-Ulrich Wehlers. Der beschreibt das Kaiserreich als ein Gebilde mit unterschiedlichen Machtzentren. Kaiser, Kanzler, Reichstag, Wirtschaftsverbände und Militär sieht er dabei eher ein Chaos als ein Konzert veranstalten. Die wirre Führungsspitze ist für Afflerbach das stärkste Argument gegen Fischers Modell einer zentral gehäkelten Weltmacht-Strategie. Hätte es die gegeben, die deutsche Politik hätte zum Kriegsbeginn nicht derart konfus dagestanden.
Fischers These vom „Griff nach der Weltmacht“geht zusammen mit der englischen Kriegspropaganda, sie schreibt deren Narrativ gleichsam wissenschaftlich weiter. Es gibt zwar schon Literatur zur Kriegspropaganda und zu den so unterschiedlichen Kommunikationsstrategien der Kriegsparteien (in Berlin war Matthias Erzberger aus Buttenhausen dafür verantwortlich). Afflerbach kommt in seiner Darstellung wiederholt darauf zurück – gerade beim Kriegsbeginn, beim U-Boot-Krieg und dem Eintritt der USA 1917 ist das Thema relevant. Aber er räumt ihm keinen systematischen Stellenwert ein. Stattdessen vergräbt er sich in Schlachtenschilderungen.
Aus der Sicht der anderen
Die bilden zwar in seinen bisherigen Publikationen einen Schwerpunkt, aber für dieses Buches ist diese Gewichtung nicht nachzuvollziehen. Denn dessen Pointe besteht darin, die Niederlage 1918 nicht als militärisches Versagen darzustellen, sondern aus dem Fehlen des politischen Kalküls. Das Kaiserreich hat sich mit Kriegsbeginn 1914 in eine Militärdiktatur verwandelt. Aber die „genialen“Strategien, der perfekt abgespulte Aufmarschplan, das Optimieren von Geschützreichweiten und Treffergenauigkeit, alle militärtechnische Tüftelei wurde Makulatur, weil politische Effekte nicht bedacht wurden. Die Meinung der Weltöffentlichkeit konnte sich gegen Deutschland richten.
Der zweite originelle Aspekt des Buches ist die Diskussion besonderer Forschungsansätze und Quellen. Dazu zählt Afflerbachs Beschäftigung mit dem französischen Historiker Georges-Henri Soutou, Zeitgeschichtler an der Sorbonne. Denn er hat diese unterschiedlichen Prioritäten in Frankreich (zugunsten der Außenpolitik) und im Deutschen Reich (zugunsten der Militärstrategie) ins Licht gerückt. Das Reich, so Soutous pointierte Formulierung, habe den Weltkrieg, der im August 1914 begann, schon im Januar 1912 verloren. Damals hatte die französische Regierung den Generalstab angewiesen, keine Kriegsplanungen zu verfolgen, die Belgiens Neutralität verletzen, um hier schon den deutschen Anmarsch abzublocken. Denn die deutsche Strategie des Schlieffenplans, der das Überrennen Belgiens vorsah (und bestens bekannt war), bot der französischen Politik die Chance, die deutschen Truppen aller Welt als Aggressor zu präsentieren. Zugleich würde der Bündnisfall eintreten. England müsste an Frankreichs Seite kämpfen.
Mit Lord Henry Lansdowne, dem ehemaligen britischen Außenminister (1900-1905) und Führer der Konservativen, präsentiert Afflerbach eine ebenso hellsichtige zeitgenössische Quelle. Er ist sein Kronzeuge für die These der geteilten Verantwortung für diesen Krieg. Immer wieder hatte Lansdowne die Alliierten zu Friedensverhandlungen mit dem Reich gedrängt. Am 9. November 1917 veröffentlichte er in der „Daily Mail“einen offenen Brief, in dem er Dauer und Opfer beklagte. „Die willentliche Verlängerung des Krieges ist ein Verbrechen, das sich nur graduell vom dem jener Krimineller unterscheidet, die ihn ausgelöst haben“. Er erntete die breite Zustimmung der britischen Öffentlichkeit. Die britischen Regierung freilich lehnte ab. Der Krieg, forderte Lansdowne, müsse endlich in einer Weise beendet werden, die verhindert, dass sich die Katastrophe gleich in der nächsten Generation wiederholt. (man)
Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide. Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor. Beck, München, 664 Seiten, 29,95 Euro