Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Überquerung der Kissinger Höhe macht das Rennen
Sieben Poetry-Slammer treten in Grünkraut gegeneinander an
GRÜNKRAUT - Der Dichterwettstreit 2.0 – neudeutsch: Poetry-Slam – hat zum zweiten Mal in Grünkraut Station gemacht. Im alten Pfarrstadl haben sich auf Einladung vom Kulturforum Grünkraut sieben junge Slammer (Dichter) dem Votum eines für Grünkrauter Verhältnisse üppigen Publikums gestellt. Mit großem Funfaktor für alle.
Selbst geschrieben müssen die literarischen Texte sein, sie dürfen im Vortrag ein Zeitlimit (sechs Minuten) nicht überschreiten, und die Slam-Poeten dürfen sich keinerlei Requisiten bedienen. So viel zu den Anforderungen, die Moderator Marvin Suckut vor dem Auftritt der sieben Slammer in Grünkraut noch einmal kurz anreißt. Etwa die Hälfte der gut 100 Zuschauer bekennt per Handzeichen, noch nie bei einem Poetry-Slam gewesen zu sein – allein die Spielregeln sind einfach, und das Abstimmungsverfahren ist es auch.
Jeweils eine Handvoll Menschen finden sich zu einer Jury zusammen, halten Karten von zwei bis zehn griffbereit, mit denen sie im Anschluss an den Vortrag den Slammer und sein literarisches Talent bewerten. Dabei geht es gar nicht in erster Linie um den Gewinn des Wettstreits (in Grünkraut gibt es für jeden Teilnehmer ein Glas mit regionalem Honig), sondern vielmehr um die kreative Auseinandersetzung mit der eigenen Sprache – was in Zeiten von Hashtags und Kurznachrichten via Social Media vor allem der jüngeren Generation oft abgesprochen wird. Außerdem: wo sonst kann das freie Sprechen vor einer Gruppe fremder Menschen besser trainiert werden?
Dass generell alles erlaubt und alles erwartet werden kann, das zeigt sich auch eindrucksvoll im Pfarrstadl. So möchte Franzi Lepschies (aus Stuttgart und vom Veranstalter eingeladen) mit ihrem Text dazu animieren, endlich wieder rauszugehen – „mit offenen Augen und leeren Händen“– anstatt sich bis zur Unkenntlichkeit zu schminken und nur für den Instagramm-Account zu leben. Letitia Wahl aus Marburg, die zweite geladene Slammerin, nimmt sich einem eher tabuisierten Thema an, nämlich dem Menstruationsverhalten. Ihr Text sitzt „wie ein schlecht platziertes o.b.“, hangelt sich von verheulten Küchenauftritten über Schokoriegel-Fressattacken bis hin zu Menstruationstassen und der durchaus komischen Frage, ob man wohl mit mehr als 100 Milligramm Füllung ins Flugzeug darf.
Von Bettwanzen und Zecken
Unangefochtene Publikumslieblinge aber sind Yannik Sellmann aus München und Stefan Dörsing aus Wetzlar. Sellmann exkursiert erst zurück in seine Wohnheimzeit, als Bettwanzen noch das geringste Übel waren, und hievt sich schließlich in der Gunst des Publikums auf Platz eins: Mit einem Auftragstext vom Alpenverein Bozen. Den hat er im Stil eines klassischen Hochalpinisten-Tagebuchs verfasst, der die Schrecken einer Überquerung der Kissinger Höhe aufs Furioseste beschreibt, inklusive der wilden Tiere (Zecken), der mörderischen klimatischen Bedingungen (13 Grad) und einer Rettung in letzter Sekunde (als zwei Nordic Walker in sein Überwurfzelt gucken).
Stefan Dörsing checkt den Status des Publikums mit ein paar handgemachten Witzen, bevor er über „entspanntes Wegreden“und „soziales Abhitlern“einem lapidaren Teebeutelspruch auf den Grund geht. „Sei dir bewusst, dass du der Andere bist“liefert aber auch allerhand Interpretationsspielraum. Nicht nur für Schizophrene.
Dass bei solchen Könnern die anderen Teilnehmer –Luana und Luan, zwei sehr junge Mädchen aus Ravensburg, und ein etwas schräger Timm – etwas ins Hintertreffen geraten: klar. Aber genau so soll ein Poetry-Slam-Event sein, wie Marvin Suckut gerne noch einmal betont: bunt, überraschend – und offen für jeden.