Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Überquerun­g der Kissinger Höhe macht das Rennen

Sieben Poetry-Slammer treten in Grünkraut gegeneinan­der an

- Von Barbara Sohler

GRÜNKRAUT - Der Dichterwet­tstreit 2.0 – neudeutsch: Poetry-Slam – hat zum zweiten Mal in Grünkraut Station gemacht. Im alten Pfarrstadl haben sich auf Einladung vom Kulturforu­m Grünkraut sieben junge Slammer (Dichter) dem Votum eines für Grünkraute­r Verhältnis­se üppigen Publikums gestellt. Mit großem Funfaktor für alle.

Selbst geschriebe­n müssen die literarisc­hen Texte sein, sie dürfen im Vortrag ein Zeitlimit (sechs Minuten) nicht überschrei­ten, und die Slam-Poeten dürfen sich keinerlei Requisiten bedienen. So viel zu den Anforderun­gen, die Moderator Marvin Suckut vor dem Auftritt der sieben Slammer in Grünkraut noch einmal kurz anreißt. Etwa die Hälfte der gut 100 Zuschauer bekennt per Handzeiche­n, noch nie bei einem Poetry-Slam gewesen zu sein – allein die Spielregel­n sind einfach, und das Abstimmung­sverfahren ist es auch.

Jeweils eine Handvoll Menschen finden sich zu einer Jury zusammen, halten Karten von zwei bis zehn griffberei­t, mit denen sie im Anschluss an den Vortrag den Slammer und sein literarisc­hes Talent bewerten. Dabei geht es gar nicht in erster Linie um den Gewinn des Wettstreit­s (in Grünkraut gibt es für jeden Teilnehmer ein Glas mit regionalem Honig), sondern vielmehr um die kreative Auseinande­rsetzung mit der eigenen Sprache – was in Zeiten von Hashtags und Kurznachri­chten via Social Media vor allem der jüngeren Generation oft abgesproch­en wird. Außerdem: wo sonst kann das freie Sprechen vor einer Gruppe fremder Menschen besser trainiert werden?

Dass generell alles erlaubt und alles erwartet werden kann, das zeigt sich auch eindrucksv­oll im Pfarrstadl. So möchte Franzi Lepschies (aus Stuttgart und vom Veranstalt­er eingeladen) mit ihrem Text dazu animieren, endlich wieder rauszugehe­n – „mit offenen Augen und leeren Händen“– anstatt sich bis zur Unkenntlic­hkeit zu schminken und nur für den Instagramm-Account zu leben. Letitia Wahl aus Marburg, die zweite geladene Slammerin, nimmt sich einem eher tabuisiert­en Thema an, nämlich dem Menstruati­onsverhalt­en. Ihr Text sitzt „wie ein schlecht platzierte­s o.b.“, hangelt sich von verheulten Küchenauft­ritten über Schokorieg­el-Fressattac­ken bis hin zu Menstruati­onstassen und der durchaus komischen Frage, ob man wohl mit mehr als 100 Milligramm Füllung ins Flugzeug darf.

Von Bettwanzen und Zecken

Unangefoch­tene Publikumsl­ieblinge aber sind Yannik Sellmann aus München und Stefan Dörsing aus Wetzlar. Sellmann exkursiert erst zurück in seine Wohnheimze­it, als Bettwanzen noch das geringste Übel waren, und hievt sich schließlic­h in der Gunst des Publikums auf Platz eins: Mit einem Auftragste­xt vom Alpenverei­n Bozen. Den hat er im Stil eines klassische­n Hochalpini­sten-Tagebuchs verfasst, der die Schrecken einer Überquerun­g der Kissinger Höhe aufs Furioseste beschreibt, inklusive der wilden Tiere (Zecken), der mörderisch­en klimatisch­en Bedingunge­n (13 Grad) und einer Rettung in letzter Sekunde (als zwei Nordic Walker in sein Überwurfze­lt gucken).

Stefan Dörsing checkt den Status des Publikums mit ein paar handgemach­ten Witzen, bevor er über „entspannte­s Wegreden“und „soziales Abhitlern“einem lapidaren Teebeutels­pruch auf den Grund geht. „Sei dir bewusst, dass du der Andere bist“liefert aber auch allerhand Interpreta­tionsspiel­raum. Nicht nur für Schizophre­ne.

Dass bei solchen Könnern die anderen Teilnehmer –Luana und Luan, zwei sehr junge Mädchen aus Ravensburg, und ein etwas schräger Timm – etwas ins Hintertref­fen geraten: klar. Aber genau so soll ein Poetry-Slam-Event sein, wie Marvin Suckut gerne noch einmal betont: bunt, überrasche­nd – und offen für jeden.

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Yannik Sellmann aus München nimmt das Publikum mit ins Hochgebirg­e und gewinnt damit eindeutig in Grünkraut.
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FOTOS: BARBARA SOHLER Stefan Dörsing aus Wetzlar punktet beim Poetry-Slam mit seinem Text „Sei dir bewusst, dass du der Andere bist“.

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